Andre Rober

Ackerblut


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legte den Fokus kurz auf die zentralen Ringe, dann wieder zurück auf Kimme und Korn. Langsam bewegte sie den Zeige­finger am Bügel vorbei bis auf den Abzug, nahm den Druckpunkt und war bereit, zu feuern. Doch sie zog den Metallbügel nicht durch. Ein seltsames Gefühl überkam sie. Etwas fühlte sich nicht richtig an. Vertraut, aber nicht richtig. Zuerst konnte sie es nicht genau definieren, doch mit einem Mal kam es ihr vor, als ob ein Mann vor der Zielscheibe stand und sie an­lä­chel­te. Es war das irre Grinsen der Gestalt, die ihr klar­machte, was in diesem Moment geschah. Die Erinnerung durchflu­tete sie wie eine Welle. Vor dem inneren Auge sah sie, wie sie die Waffe mit beiden Händen vor sich hielt, be­reit abzu­drücken. Vor ihr stand Maik Hedde auf dem Dach seines Bauernhofes, die schussbereite Waffe ihrer Kollegin in der Hand. Damals, vor sich den bewaffneten Mörder, der ihren mehrfachen Aufforder­ungen, die Waffe fallenzu­lassen nicht nachgekommen war, hatte sie ebenfalls nicht abgedrückt. Kollegen hätten in dieser Situation längst ge­schossen, sie tat es nicht. Es war - Gott sei Dank - nicht nö­tig gewesen, weni­ge Augenblicke später hatte sich Hedde in den Tod ge­stürzt. Doch auch jetzt auf dem Schießstand schien sie nicht in der Lage, den Zeigefinger die entscheidenden Mil­li­meter zu krümmen. Sollte das Erlebnis einige Wochen zuvor tat­sächlich eine Schießblockade bei ihr ausgelöst ha­ben?

      Nicht mit mir!, dachte sie und zog den Abzug durch. Die Heckler & Koch bäumte sich in ihren Händen auf. Nachdem die Waffe Sekundenbruchteile später zur Ruhe kam, lag sie immer noch gut im Ziel. Sarah korrigierte nur ein wenig und schoss nochmals. Und auch die drei verbleibenden Patro­nen feuerte sie in schneller Folge ab, bis der Schlitten in der rückwärtigen Position hängen blieb. Sarah senkte die Waffe ab und atmete tief durch.

      »Sehr lange visiert, und dann aber fünf Schuss in etwas we­ni­ger als vier Sekunden. Es geht hier um Präzision, das ist Ihnen schon klar?«

      Wie aus einem Traum erwacht sah Sarah den Mann an.

      »Ja, natürlich!«

      »Und was haben Sie da gemurmelt, bevor Sie den ersten Schuss abgegeben haben?«

      Sarah erschrak innerlich ein wenig, ließ sich aber nichts an­merken.

      »Habe ich?«, fragte sie. „Bin nur nochmal die Anweisungen durchgegangen, was Atmung angeht und so. Habe wohl laut gedacht.«

      »Na dann«, antwortete der Ausbilder. »Waffe ablegen und zurücktreten, bitte.«

      Sarah tat, wie geheißen, und unmittelbar darauf bewegte sich die Scheibe surrend auf sie zu. Als sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, konnte Sarah bereits erkennen, dass die Treffer gut lagen. Zwei Zehnen, eine Neun, zwei Achten. Die Aufsicht prüfte das Trefferbild und pfiff leise.

      »Sehr gut! Das machen wir gleich nochmal. Und nehmen Sie sich etwas mehr Zeit. Die schnellen Schussfolgen auf die beweglichen Ziele im Schießkino kommen später auch noch dran.«

      Sarah nickte ermutigt, trat vor an den Stand und nahm die Waffe wieder auf.

      »Bereit für die nächste Runde?«

      »Bereit!«

      Die Schreie des rumänischen LKW-Fahrers, der einge­klemmt in dem zusammengedrückten Führerhaus fast über eine Stunde ausharren musste, bis ihn die Feuerwehr mit Hydraulikspreize und Stahlschere befreien konnte, würde Imke sicher ihr Leben lang nicht vergessen. Immerhin war er noch am Leben, als die professionellen Helfer ihn auf einer Trage über die Trümmer zu einem der Hubschrauber tru­gen. Der Blick, den sie von seinen Beinen erhaschen konn­­te, verhieß allerdings nichts Gutes und auch seine Ar­me wa­ren in blutige Verbände gehüllt. Dagegen sah die mit einer Kompresse bedeckte Platzwunde auf seiner Stirn noch ver­hältnismäßig harmlos aus. Nachdem sie in den ersten fünf­­zehn Minuten nach ihrem Eintreffen noch den Sani­tä­tern und Ärzten bei der Versorgung der Verletzten geholfen hat­ten, war es zuletzt ihre und Svens Aufgabe gewesen, die Blech­schlange aufzulösen, um den Hubschraubern mehr Platz zum Landen zu verschaffen. Nach und nach gelang es ihr und ihren mittlerweile zahlreich vertretenen Kollegen, die Fahrer zum Umdrehen zu bewegen und zurück Rich­tung Freiburg zu dirigieren. Bergauffahrend hatten sie in Fal­kensteig eine Vollsperrung eingerichtet. Verkehrstech­nisch war alles im Griff und der Abtransport der Verletzten über die Straße lief reibungslos. Auf der anderen Seite des LKW war die Zufahrt für die Rettungskräfte ebenfalls frei. Dort hatten vier PKW und zwei weitere Sattelschlepper dem Unfall nicht ausweichen können. Jetzt, nachdem mit dem Fahrer des unfallverursachenden LKW alle Verletzten aus den Trümmern gerettet und abtransportiert waren, be­gann für Imke und ihre Kollegen die Unfall­aufnahme. Mit Fo­to­apparat, Videokamera, Maßbändern, Krei­de und Mar­­kie­rungspylonen gingen sie ans Werk, um so viel wie mög­lich vom ursprünglichen Bild zu sichern. Natürlich war wäh­rend der Rettungsarbeiten darauf keine Rücksicht ge­nom­men worden. Fahrzeuge wurden ausein­an­der gezo­gen aufgeschnitten, beiseite gerückt, um das Le­ben der Men­schen zu retten. Und auch die Bergung der Toten wurde zügig vorangetrieben, aber jetzt konnten Imke und die Kol­legen es verantworten, hier und da einige Se­kunden im Weg zu ste­hen, um so genau wie möglich zu dokumen­tie­ren.

      Bisher war von fünf Todesopfern die Rede. Zwei auf dieser Seite des Unfalls, drei auf der anderen. Doch als Imke und Sven sich über Autowracks und abgeflexte Trümmerteile zu dem Führerhaus des Sattelschleppers vorgearbeitet hat­ten, wurde ihnen jäh klar, dass die Zahl um ein oder zwei wei­tere Opfer nach oben korrigiert werden musste. Imke war sich nicht sicher, ob die Feuerwehrmänner und Ärzte, die den Fahrer aus dem LKW befreit hatten, das Autowrack nicht bemerkt hatten, oder aber so wie sie selbst mit einem Blick zu der unumstößlichen Überzeugung gelangt waren, dass in diesem Wagen auch mit dem allergrößten Glück niemand überlebt haben konnte. Imke war sich ziemlich sicher, wie es zu dieser Situation gekommen war. Der ru­mä­nische LKW hatte das entgegenkommende Auto mit ho­her Geschwindigkeit frontal gerammt und dabei die Front­­partie erheblich zusammengedrückt. Auf den folgen­den Me­tern hatte er das Fahrzeug vor sich hergeschoben. Als der Wagen von der Straße in die leichte Vertiefung ge­rutscht war, hatte sich der LKW darübergeschoben und ihn im wahrsten Sinne des Wortes plattgemacht, bevor die bei­den Fahrzeuge durch den hinter dem Graben aufstei­gen­den Hang gestoppt worden waren. Bei diesem Aufprall hat­te das untere Fahrzeug, von dem Imke lediglich die Farbe fest­stellen konnte, nochmals gewaltige Energie abbekom­men und weitere Deformationen erfahren. Sie schätzte die Höhe des Wracks auf bestenfalls achtzig Zenti­meter, die Länge be­trug gerade mal zwei bis drei Meter. Fabrikat oder Mo­dell zu benennen war ihr unmöglich, das zerfetze Fahr­zeug hätte nach der Bearbeitung in einer Schrottpresse nicht un­kenntlicher sein können. Ein Blick unter den Auflieger be­stätigte Imkes Theorie. Dort, wo sie den Asphalt sehen konnte waren dicke schwarze Streifen aufradiert. Da der LKW zum jetzigen Kenntnisstand nicht gebremst hatte, waren das die Spuren des zerquetschten Fahrzeugs, als es von dem massiven LKW über den Straßenbelag ge­schleift wurde.

      »Ich schau mir das Wrack mal aus der Nähe an.« Imke hol­te tief Luft, sprang in die Vertiefung und ging neben dem zermalmten Auto in die Knie. Oben auf der Straße sagte Sven nur Okay und fotografierte weiter. Auch Imke machte Fotos und untersuchte die Trümmer des Wagens genauer. Daran, eine Tür zu öffnen, war nicht zu denken, doch auf der Fahrerseite war eindeutig mit einer Flex ein Teil her­ausgeschnitten worden. Die Feuerwehr hatte also nachgese­hen, ob hier noch etwas zu retten gewesen sei, aber die Ar­beiten nicht weiter fortgesetzt. Verletzungen nicht mit dem Le­ben vereinbar würde im Protokoll zu lesen sein, den Fach­jargon beherrschte auch Imke. Einem unwider­steh­lichen Drang von Neugier folgend, der die Gewissheit, dort etwas Schreckliches zu sehen, nach kurzem Ringen ausblen­dete, zückte sie ihre Taschenlampe und leuchtete in die etwa DIN A4 große Öffnung hinein. Es dauerte eine Weile, bis sie die Farben und Strukturen zuordnen konnte, auf die der Licht­strahl traf. Das Ensemble aus Rot- und Gelbtönen, aus dem immer wieder scharfkantige, fast weiße Objekte heraus­ragten, waren der zermalmte Schädel und die Gehirnmasse des Fahrers. Ein Stück Kiefer, in dem noch zwei weiße Zäh­ne eine Goldkrone umrahmten, gab Imke die Gewiss­heit. Wo Augen, Nase und der Rest der Kau­werkzeuge abgeblie­ben waren, konnte sie nicht feststellen. Mit geschlossenen Augen wandte sich die Polizistin ab und stand auf.

      »Hier wird noch einiges zu tun