Am nächsten Tag vertraute ich mich meiner Mutter an, führte sie zum Sandkasten und zeigte ihr das Mädchen. Meine Mutter meinte „Behalte sie nur im Auge.“ Und sie tat mir einen großen Gefallen, indem sie Namen, der Vorname war Annemarie, und Adresse des Mädchens herausfand.
Etwa vier Wochen nach diesem Ereignis, das mich stark beunruhigte, lernte ich Evelyn kennen. Sie war blond, anderthalb Jahre jünger als ich, und zweifellos die mir zugesprochene Gefährtin meiner Jugend, aber ein schwieriger Fall, der mich viele Jahre in Atem hielt. Erstaunlicherweise lernte mich am gleichen Abend das Sandkastenmädchen kennen und betrachtete mich fortan als ihren künftigen Ehemann.
Diese „Offenbarung“, so nannte ich mein Erlebnis, hatte mich ziemlich erschüttert. Hatte ich mich mit meiner Gier, in die Zukunft zu blicken, versündigt? War mir etwa tatsächlich ein kurzer Blick in mein Schicksal gewährt worden, oder war das Ganze nur eine verrückte Phantasie?
Die Wochen danach schlief ich schlecht und träumte schwer. Tagsüber war ich auf der Hut. Wenn ich schon gestraft werden sollte, sollte es mich wenigstens nicht unvorbereitet treffen. Und schließlich war ich in Sorge, dass ich die für mich vorgesehene blonde Gefährtin, falls es eine solche geben sollte, verfehlen könnte. Der für meinen Fall zuständige Engel würde dann sagen: „Es tut mir ja wirklich leid, aber ich habe für dich getan, was ich konnte. Du hättest halt die Augen aufmachen müssen.“
Einige Wochen nach dem seltsamen Erlebnis am Sandkasten fuhren mein Vater, der ungewöhnlich früh nach Hause gekommen war, und ich mit dem Fahrrad zum Schwimmverein am Langen See. Nach der Arbeit war mein Vater zumeist schweigsam und taute erst im Laufe des Abends auf. Oft blieb er aber den ganzen Abend über streng und verschlossen. So umgänglich wie heute hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich fragte ihn, ob er befördert worden sei, und nachdem er dies verneinte, ob er vielleicht im Lotto gewonnen hätte. Die Frage, nicht ganz ernst gemeint, denn mein Vater hatte sich immer strikt gegen Glücksspiele ausgesprochen, wurde von ihm gleichfalls verneint.
Mein Vater wusste von meiner „Offenbarung“ und den daraus folgenden Besorgnissen. Meine Mutter, der ich mich mitgeteilt hatte, was das Mädchen mit den Zöpfen anging, war der Meinung, ihrem Mann alles erzählen zu müssen. Mein Vater und ich hatten dann ausführlich über das Erlebte gesprochen. Von meinem „Handel“ mit den höheren Mächten und einem zweiten Mädchen hatte ich aber niemandem erzählt. Mein Vater hatte mich beruhigt: „Auch wenn du jetzt vielleicht tatsächlich schon die Frau erkannt hast, die einmal die Mutter deiner Kinder sein wird, darfst du trotzdem vorher Freundinnen haben und kannst dich auch unbesorgt verlieben. Es wird sich schon alles fügen.“
In seiner guten Laune, die er jetzt im Schwimmbad versprühte, versprach er mir zu helfen, und zwar jetzt gleich. „Wenn du willst, kann ich eine Freundin für dich finden.“ Ich sagte ihm: „Aussuchen möchte ich sie schon lieber selbst, aber was soll ich dann tun?“ „Geh einfach zu ihr und sprich mit ihr“, war die Antwort. „Aber was soll ich ihr sagen?“ fragte ich zweifelnd. „Sag ihr, dass sie dir gefällt, oder mach ihr irgendein anderes Kompliment und dann sag, dass du gern ihr Freund sein möchtest.“ „Ich bekomme bestimmt kein Wort heraus“, erwiderte ich. „Dann gib ihr eben einfach einen Kuss“, erklärte mein Vater gut gelaunt, dann wird sie dir nicht widerstehen können“. „Ich glaube eher, dass ich mir damit eine Ohrfeige einhandle,“ antwortete ich bekümmert. „Wenn du hier trübselig herumsitzt, wirst du jedenfalls niemanden finden. Du musst dich unter die Leute mischen, mit ihnen reden. Pass auf, wie ich es mache.“
Mein Vater stand auf, ging leutselig umher, grüßte hier und da jemanden, sprach die eine oder andere Person, zuerst Männer, dann auch Frauen an, schien mit der einen oder anderen Frau geradezu zu flirten. Mir war das ziemlich peinlich. Und das sagte ich ihm auch, als er zurückkam und mich aufforderte, es ihm gleich zu tun. „Ein bisschen musst du schon mitarbeiten, wenn wir eine Freundin für dich finden sollen, sonst kann ich dir auch nicht helfen. Und du solltest schon gar nicht herumsitzen und grübeln. Das hilft dir nicht weiter. Komm wenigstens mit ins Wasser und schwimm eine Runde. Mit ein paar Muskeln hast du sowieso bessere Chancen.“ Ich hatte keine Lust zu schwimmen, erschöpft und übermüdet, wie ich war.
Mein Vater fing wieder an herumzulaufen, und ich, um seine Peinlichkeiten nicht mit ansehen zu müssen, verzog mich in einen wenig frequentierten Teil des Bades. Hier waren im Wasser Schwimmbahnen abgeteilt für Wettkämpfe und am in Terrassen ansteigenden Ufer standen Sitzbänke für Zuschauer. Oberhalb der Sitzbänke befand sich eine freie sandige Fläche. Zwischen den Sitzbänken spielten ein kleines Mädchen und ein noch kleinerer Junge. Es waren, wie ich überrascht feststellte, das Mädchen aus meiner „Offenbarung“ und ihr Bruder. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete die beiden. Ihnen zuzuschauen, beruhigte mich. Die Kleine mit den langen braunen Zöpfen hatte tatsächlich etwas an sich. Sie spielte in einer ruhigen, zielgerichteten Weise. Geduldig aber bestimmt reagierte sie auf chaotische Anfälle ihres Bruders, der an ihrer systematischen Art des Spielens wenig Gefallen fand.
Das Zuschauen machte mich noch müder. Ich ging deshalb zurück an den Strand, legte mich auf die mitgebrachte Decke und schloss die Augen. Mein Vater war nicht zu sehen, wahrscheinlich war er zum Schwimmen gegangen. Ich schlief ein. Als ich erwachte, näherte sich die Sonne dem Horizont. Es war kühler geworden. Mein Vater fasste mich am Arm und sagte, „Wir müssen jetzt gehen. Wir sind sonst zu spät zum Abendessen.“ Schlaftrunken setzte ich mich auf und erstarrte. Bevor ich eingeschlafen war, war der Platz vor mir leer gewesen. Jetzt saß dort, unmittelbar vor mir ein Mädchen mit blonden Haaren im Badeanzug. Es wandte mir den Rücken zu. Ich konnte sein Gesicht also nicht sehen. Das Mädchen war kleiner als ich, aber schätzungsweise gleichaltrig. Es saß ganz allein auf einem Handtuch, obwohl es zu jung war, um sich ohne Familienangehörige um diese abendliche Zeit im Schwimmverein aufzuhalten. Ich stellte mir vor, dass es hübsch war. War es sie? War dies etwa die Gefährtin, auf die ich gewartet hatte? Mein Vater drängte: „Wir müssen jetzt wirklich gehen“. „Nein“, antwortete ich flüsternd, „noch nicht, auf keinen Fall“.
Ich stand auf und ging zum Wasser, schaute eine kurze Weile auf den See hinaus, bevor ich mich unauffällig umdrehte, halb erwartend, das Mädchen würde dann verschwunden sein. Es war nicht verschwunden, saß vielmehr ganz ruhig da und schaute mich an. Sie schaute mich an. Ihr Blick, der meinem nicht auswich, schien nachdenklich und ein wenig abschätzend. Lag eine Aufforderung in diesem Blick? Und sie war hübsch. Sie sah tatsächlich genauso so aus, als wäre sie einem meiner Träume entsprungen, nur jünger.
Ich setzte mich wieder auf die Decke und überlegte krampfhaft, wie ich sie ansprechen könnte. Leider fiel mir überhaupt nichts ein, jedenfalls traute ich mich nicht. Mein Vater sagte: „Nun mach schon und rede mir ihr“. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, erwiderte ich flüsternd.“ „Sag ihr einfach, dass sie dir gefällt und dass du sie gern kennenlernen möchtest“. „Das kann ich nicht, das hört sich doof an.“ „Dann gib ihr eben einfach einen Kuss. Dann brauchst du gar nichts zu sagen“, schlug mein Vater vor, diesmal schon etwas lauter. Ich hatte Angst, das Mädchen könne die Unterhaltung mithören und bat ihn, doch bitte leiser zu sprechen. Plötzlich drehte sich das Mädchen halb um und sah mich von der Seite an. Ich vermochte den Blick nicht zu deuten, aber er lähmte mich. Mein Vater stand auf und sagte: „Vielleicht lasse ich dich jetzt besser allein.“ Um dem Blick des Mädchens auszuweichen und um mich zu beruhigen, mein Herz pochte und meine Kehle war wie zugeschnürt, legte ich mich wieder auf den Rücken, schloss die Augen, und stellte mir in den unterschiedlichsten Varianten vor, wie ich die Unbekannte anreden würde. Erst als ich spürte, dass mein Vater sich wieder neben mich setzte, machte ich die Augen auf.
Das Mädchen war verschwunden. Ich war maßlos enttäuscht und schimpfte mit meinem Vater: „Du hättest mir Bescheid geben müssen, als du gemerkt hast, dass sie geht. Jetzt werde ich sie nie wiedersehen.“ Mein Vater lachte: „Guck dich mal richtig um.“ Das tat ich. Das Mädchen war nicht nach Hause gegangen. Es saß jetzt vielmehr zusammen mit einer Frau, die seine Mutter sein musste, und einem zweiten Mädchen, das in einem Buch las, offenbar eine Schwester, vielleicht zwanzig Meter entfernt zu meiner Linken. „Jetzt kann ich sie nicht mehr ansprechen, so etwas Blödes“, ärgerte ich mich. Wie konnte ich bloß die Gelegenheit