Christoph Klesse

Rückspiegelungen Episode 1 - Vom Verlieren der Liebe


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halten, ohne ihm Zwang anzutun. Als sich ihr Mund seinem näherte, riss der Kleine sich los und ließ sich zu Boden fallen. Ich stolperte, und die Lippen des Mädchens trafen meinen Mund anstatt den Mund ihres Bruders. „Jetzt bist du mit mir verheiratet“, lachte sie mich an und strahlte. „Quatsch, das war nur ein Versehen“, erwiderte ich. „Das war kein Versehen“, antwortete sie trotzig, „du bist jetzt mein Bräutigam.“ Ich versuchte, ihr das auszureden, ohne rechten Erfolg. Dann zog ich es vor, mich aus dem Staube zu machen, bevor ihr Vater oder ihre Mutter womöglich noch mitbekamen, was sich hier abspielte. Ich war erschüttert. Vor wenigen Wochen hatte mir eine Stimme, von der mir nicht klar war, ob sie einer höheren Macht, meinem Vater oder purer Einbildung entsprang, vorhergesagt, dass dieses Mädchen mir als Frau bestimmt sei, womit ich überhaupt nicht einverstanden war, da sie viel zu jung für mich war, und jetzt betrachtete sie mich ihrerseits schon als Bräutigam.

       Ich kehrte ziemlich belämmert zu meinem Vater zurück und erzählte ihm stockend, was vorgefallen war, wobei ich immer wieder zur Seite schielte auf das blonde Mädchen, das mich ungeniert und entweder spöttisch oder herablassend anschaute. Klar deuten konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht. Es wandte den Blick sofort ab, wenn ich den Kopf in seine Richtung bewegte. Mein Vater war amüsiert. „Jetzt hast du also zwei Frauen am Hals“, sagte er gut gelaunt. „Kommst du damit klar?“ „Ich glaube nicht“, antwortete ich. „Sieh es mal von der Seite“, fuhr mein Vater fort, „wenn du dich mit einer verkrachst, hast du immer noch die andere in petto.“ „Was soll ich mit einem kleinen Kind anfangen?“ maulte ich. „Sie wird jeden Tag älter“, sagte mein Vater ungerührt „und außerdem ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass du von den Frauen vorläufig überhaupt noch die Finger lassen solltest.“ Ich schüttelte bockig den Kopf. Auf die Blonde wollte ich nicht verzichten. „Na, du hast jetzt jedenfalls gelernt, dass man mit Frauen sehr vorsichtig sein muss. Ehe du dich versiehst, haben sie dich schon am Wickel.“ „Mich hat niemand am Wickel“, protestierte ich schwach. „Na, vielleicht bist du ja jemand, der zwei Frauen aushalten kann.“ „Meinst du, so was ist möglich?“ fragte ich. „Vieles ist möglich“, erwiderte mein Vater vage und damit war die Diskussion beendet. Er schlug vor, jetzt endlich aufzubrechen. Ich wehrte den Vorstoß ab und erklärte, ich könne auf gar keinen Fall vor dem blonden Mädchen nach Hause gehen. „Na gut, dann warten wir noch ein bisschen“, willigte mein Vater ein. Ich legte mich wieder auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Hatte ich nicht tatsächlich zwei Gefährtinnen haben wollen, eine Blonde, die meiner Mutter ähnlich sein sollte, für die nahe Zukunft und eine Brünette, die meiner Lieblingstante ähneln sollte, für später? Hieß das etwa, ich müsste dann die erste aufgeben? Das schien mir unfair, das wollte ich nicht, und ehe ich mich versah, war ich wieder eingenickt.

       Ich wachte auf, als mein Vater mir einen Stups versetzte. „Wir können jetzt nach Hause“, sagte er, „deine Freundin ist gegangen.“ Ich war entsetzt. Ich wusste ja gar nichts über das Mädchen. „Kennst du die Familie?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Keine Ahnung“, erwiderte mein Vater. Ob das nun stimmte oder nicht, wie sollte ich sie wiedersehen, wenn ich nicht mal wusste, wie sie hieß. „Sie sind vielleicht noch in den Umkleidekabinen“, rief ich. „Ich gehe nachschauen“. Als ich mich rasch erhob, sah ich die ganze Familie, diesmal mit Vater, der voranging. Sie gingen entlang der Kabinen für Männer in Richtung Ausgang. Meine Wunschfreundin wandte den Kopf in meine Richtung. Ich glaubte, ihr Gesicht ganz deutlich sehen zu können, obwohl es schon dämmerte. Ihr Gesicht, und nur ihr Gesicht, niemandes sonst, schien von der untergehenden Sonne hell erleuchtet, oder es leuchtete aus sich heraus. Wie konnte das sein? In diesem Augenblick traf es mich wie ein Schlag zwischen die Schulterblätter. Das war sie, das war das Mädchen meiner Träume. Von diesem Augenblick an war ich in sie verliebt, ohne es zu wissen. Was ich ohne jeden Zweifel wusste, war: Sie ist die Richtige. Ich rannte los, ich musste sie, bevor sie das Bad verließ, nach ihrem Namen fragen. Nahe dem Ausgang holte ich sie ein. Sie stand in der Nähe ihres Vaters, der mit dem Bademeister redete. Mutter und ältere Schwester waren nicht zu sehen, vielleicht waren sie weitergegangen zu den Umkleidekabinen für Damen, rechts neben dem Ausgang.

       Ich trat auf das Mädchen zu, alle Verlegenheit war von mir abgefallen, und stellte mich nochmals vor, diesmal mit meinem vollen Namen. Dabei behielt ich ihren Vater, der mit dem Bademeister sprach, im Auge. Gerade wollte ich sie nach ihrem Namen fragen, als ich hörte, dass ihr Vater die ganze Familie im Schwimmverein anmeldete und dabei seinen Nachnamen, „Rothfeld“ nannte. Ich brauchte das Mädchen also gar nicht mehr zu fragen. Ich würde es hier im Schwimmbad wiedersehen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Darüber bemerkte ich zunächst gar nicht, dass meine Freundin in spe mit mir redete. Als ich mich ihr halbherzig wieder zuwandte, klang sie verärgert: „Dauernd läufst du mir nach. Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen.“ „Ich wollte nur deinen Namen wissen. Jetzt kann ich dich gern in Ruhe lassen.“ „Du wirst mich aber nicht in Ruhe lassen. Du wirst mir weiter nachlaufen. Glaub bloß nicht, ich hätte nicht gemerkt, was mit dir los ist. Und denk ja nicht, dass ich dich jemals leiden werde, das wird auf keinen Fall passieren. Da brauchst du dir gar keine Mühe geben.“ „Oh“, versuchte ich zu scherzen, „das kann man nie wissen, wenn man sich erst mal geküsst hat.“ „Ich muss dich vielleicht wegen des Küssens heiraten, aber deshalb muss ich dich noch lange nicht mögen,“ antwortete das Mädchen hitzig, dann etwas versöhnlicher; „du kannst ja auch eigentlich nichts dafür, ich hätte dich nicht anschauen dürfen, da musstest du dich ja in mich verlieben.“ „Nein bin ich nicht“, behauptete ich, „ich bin nicht verliebt. Davon, dass man angeschaut wird, verliebt man sich nicht und überhaupt, wir müssten uns erst mal kennenlernen.“ Das mit dem Anschauen hatte ich nicht verstanden. Was meinte sie damit? Sie würde es mir erst Jahre später erklären. „Du bist zugegeben ziemlich hübsch“, schmeichelte ich ihr: „Vielleicht werde ich mich ja noch in dich verlieben, aber nur …“, ich wollte sagen: „wenn du auch nett bist.“ Dazu kam ich aber nicht mehr.

       „Haben wir ein Problem, junger Mann?“ Ihr Vater trat von hinten auf mich zu. Ich drehte mich zu ihm um und antwortete eilig: „Nein, kein Problem. Ich wollte Ihre Tochter nur nach ihrem Namen und ihrer Adresse fragen, damit ich sie wieder treffen kann. Aber das hat sich ja erledigt.“ „Erledigt? Hast du so schnell gemerkt, wie eitel sie ist? Willst du dich jetzt nicht mehr mit ihr anfreunden?“ „Doch, doch“, beeilte ich mich zu sagen, „aber ich weiß ja jetzt, dass Sie wiederkommen werden.“ „Ganz gewiss, und ich denke, meine Tochter braucht tatsächlich einen Freund, und du könntest, glaube ich, richtig für sie sein. Sie ist nämlich ziemlich eingebildet in letzter Zeit. Du hast es ja selbst gehört. Rück ihr ruhig mal gehörig den Kopf zurecht, damit sie zur Vernunft kommt.“ Mit diesen Worten, nahm er seine Tochter bei der Hand und zog sie in Richtung Ausgang oder Kabinen, während diese mir noch einen blitzenden Blick zuwarf. Ich brachte gerade noch ein höfliches „Auf Wiedersehen“ zu Wege. Ihr Vater sagte etwas zu ihr, und ich verstand ihren Vornamen „Evelyn.“

       „Evelyn“, in Gedanken wiederholte ich den Namen ein paar Mal und war zunächst einfach platt. Ich hatte sie, das Mädchen meiner Träume, gefunden. Ich hatte ihre Mutter geküsst. Ihre Mutter hatte mir erlaubt, Evelyn zu küssen. Evelyn hatte mich zurückgeküsst. Sie meinte, mich heiraten zu müssen. Sie mochte mich nicht. Da war auch noch die Sache mit dem Anschauen. Ihr Vater hatte mich tatsächlich aufgefordert, mich mit ihr anzufreunden. Er hatte mich aufgefordert! Er war mir wegen des Küssens offenbar überhaupt nicht böse.

       Mein eigener Vater hatte sich in einer Weise aufgeführt, die ich noch nie an ihm erlebt hatte. Zu allem Überfluss hatte mich noch ein zweites Mädchen geküsst, das mich jetzt offenbar ebenfalls als ihren Bräutigam betrachtete. Nichts schien mit rechten Dingen zuzugehen, aber aufregend war es, und irgendwie war es doch für mich nicht schlecht gelaufen, und wenn Evelyn meinte, mich heiraten zu müssen, würde sie sich schon noch dazu herablassen, ein bisschen netter zu sein.

       Auf dem Nachhauseweg erklärte mir mein Vater, der jetzt wieder völlig normal erschien, dass wir der Mutter besser kein Wort von der ganzen Geschichte erzählen sollten. „Wir sagen einfach, wir seien beide müde gewesen und eingeschlafen, also kein Wort von irgendwelchen Küssen. Wir wollen deine Mutter nicht beunruhigen.“ Das erschien mir sehr vernünftig. Meine Mutter war über die späte Heimkehr verärgert. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht.