Christoph Klesse

Rückspiegelungen Episode 1 - Vom Verlieren der Liebe


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lehnte ich wieder ab, aber dann erkannte ich in dem Vorschlag ein gewisses Potential. Ich könnte versuchen, Evelyn wirklich zu erschrecken und ihr damit vielleicht ihren Leichtsinn austreiben. Wir verabredeten Tag und Uhrzeit für eine praktische Übung, so dass ich Zeit hatte, erst einmal zu Hause alleine zu trainieren.

       Für die geplante praktische Übung packte ich den Regenmantel meines Vaters, einen seiner Hüte, sowie Schal und Sonnenbrille in meine Badetasche ein und nahm meine Stelzen mit, die mich größer machen sollten. Meinem Vater fiel die ungewöhnlich volle Tasche auf, und ich kam nicht umhin zu bekennen, was ich im Schilde führte. Seine Reaktion fiel unerwartet milde aus. Er schlug sogar vor, dass er das Erschrecken übernehmen könnte: „Ich kann das doch wahrscheinlich überzeugender als du.“ Damit war ich nun überhaupt nicht einverstanden. Das Risiko einer Entdeckung war viel zu hoch. Mir würde man das wohl noch als Jungenstreich durchgehen lassen, aber meinen Vater würde man möglicherweise für den echten Exhibitionisten halten. Das leuchtete ihm ein. Er schlug vor, ein Notzelt mitzunehmen, das er aus dem Krieg gerettet hatte. In dem könnte ich mich verstecken, falls mir keine Zeit bliebe, mich meiner Verkleidung unauffällig zu entledigen. Das Notzelt, war eine einfache dreieckige Zeltplane. In der Mitte des langen Schenkels war ein Loch, in das ein armlanger Ast als Zeltstange gesteckt wurde. Mit drei Heringen wurden die drei Ecken der Plane am Boden befestigt. In dem nach vorne offenen Unterschlupf konnten gerade eine erwachsene Person und ein Kind mit dem Kopf zum Eingang flachliegen.

       Mit Badetasche und Stelzen begab ich mich unauffällig in die Büsche und staffierte mich mit Mantel, Hut, Schal und Sonnenbrille aus, bestieg die Stelzen, lehnte mich an einen Baum und wartete. Evelyn verspätete sich. Statt ihrer tauchte der kleine Bruder des Anführers der Jungenbande auf, schlich zwischen den Bäumen und Büschen herum. Ich wusste von meinem Informanten, dass sein älterer Bruder ihn beauftragt hatte, Evelyn und mir nachzuspionieren. Die Gelegenheit schien günstig, ihm dies auszutreiben. Bevor ich aber den Mund aufmachen konnte, hatte er mich schon selber entdeckt und erschrak fürchterlich. Mich als meinen eigenen Bruder ausgebend, rief ich ihm zu, wobei ich versuchte, meine Stimme zu verstellen, er oder sein Bruder sollten sich ja nicht unterstehen, sich hier noch einmal blicken zu lassen, sonst würden sie eine kräftige Tracht Prügel beziehen. Wahrscheinlich hörte der Kleine das gar nicht mehr, aber Evelyn, die in diesem Moment auftauchte, die hörte es. Sie wurde puterrot im Gesicht, so kam es mir jedenfalls vor, und schrie mich an: „Wie kannst du einen kleinen Jungen zu Tode erschrecken! Das ist ja wohl das Letzte!“ Von ihrer Reaktion völlig überrascht, verteidigte ich mich: „Der Kleine hat sich vor Überraschung erschreckt. Ich habe sonst gar nichts gemacht.“ Während ich eilig die Klamotten wieder in der Badetasche verstaute, und Evelyn dringlich bat, die Lautstärke ihres Gezeters zu mäßigen, am Ende würde man womöglich auf uns aufmerksam und jemand könnte die Polizei rufen. Sie schimpfte unverdrossen weiter und verstieg sich zu der Drohung, wenn jemand, dann würde sie die Polizei verständigen. Mir würde es nur recht geschehen, wenn ich jetzt richtig Ärger bekäme. Wütend und zugleich doch ein wenig besorgt, fragte ich: „Du würdest doch nicht im Ernst die Polizei holen? Wenn du das machst, will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Da rannte sie schon weg. Ich glaubte eigentlich nicht, dass sie die Polizei verständigen würde, andererseits war ich mir auch nicht ganz sicher, wie weit Evelyn gehen würde. Ich beeilte mich jedenfalls, die Badetasche im Notzelt zu verstauen, berichtete meinen Vater, was passiert war, und schlug ihm vor, gleich nach Hause zu fahren. Mein Vater war unbesorgt und meinte, wir sollten uns nur ganz unauffällig verhalten. Wir spielten also Federball. Plötzlich kam Unruhe auf. „Die Polizei kommt!“ riefen Leute einander zu. Ich bekam einen gewaltigen Schrecken. Mein Vater, immer noch unbesorgt, meinte, wir sollten uns einfach ins Zelt legen. In ein unbelegtes Zelt würden die Beamten vielleicht hineinschauen und dabei möglicherweise die Badetasche entdecken. Falls ein Polizist uns befragen wolle, solle ich meinem Vater das Reden überlassen. Wir zwängten uns also nebeneinander in das enge Notzelt, die Köpfe im Freien.

       Tatsächlich tauchten zwei Polizisten auf, gingen im Gelände ohne Eile umher und sprachen einzelne Leute an, oder wurden angesprochen. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Gott sei Dank zeigten die beiden Polizisten keinerlei Interesse für unser Zelt und zogen bald wieder ab. Erleichtert schwor ich mir, mich nie mehr auf solche unsinnigen Spiele einzulassen. Mit Evelyn war ich fertig. Mit ihr wollte ich nichts mehr zu tun haben. Ein paar Tage später sah ich sie noch ein letztes Mal. Sie saß zusammen mit der Jungenbande, als gehöre sie dazu. Grußlos ging ich vorbei, und auch sie würdigte mich keines Blickes. Für den Rest der Badesaison erschienen sie und ihre Familie nicht mehr im Schwimmverein, und ich vergaß Evelyn rasch und gründlich, ohne ihr nachzutrauern. Mit Mädchen sollte man sich eben nicht einlassen. Tage später stellte sich heraus, dass es nicht Evelyn war, die den Bademeister alarmiert hatte. Eine erwachsene Frau, der sich der Exhibitionist präsentiert hatte, meldete sich beim Bademeister, der dann seinerseits die Polizei rief. Der Exhibitionist wurde gefasst, aber das änderte nichts mehr. So endete unser erster Sommer.

      Zweiter Sommer : Lieber ein Mann

      Herbst, Winter und Frühjahr gingen vorüber. Die Tage wurden länger und wärmer. Schließlich war es wieder warm genug, um im Freien ein Sonnenbad zu nehmen und eine Runde zu schwimmen. Der Schwimmverein am Langen See war wie jedes Jahr der bevorzugte Treffpunkt. Der See hatte in etwa die Form eines langgezogenen Rechtecks, an dessen Schmalseite ein kleineres ebenfalls in die Länge gezogenes Rechteck angefügt war. Der Schwimmverein grenzte an eine Schmalseite des großen Rechtecks und eine der langen Seiten des kleinen Rechtecks. Am entfernten Ende der kleineren Wasserfläche lag ein Schwimmklub für die Mitarbeiter eines Industrieunternehmens. Diesem Schwimmklub war eine kleine künstliche Insel vorgelagert. Sie bestand aus einer quadratischen mehrere Quadratmeter großen Plattform, die mit Holzdielen belegt war. Die Konstruktion war mit Eisenstangen im Seegrund verankert. In dem recht kleinen Schwimmklub waren meist nur wenige Badegäste anzutreffen. Die schwimmende Insel wurde so gut wie nie benutzt.

      Aber dieses Jahr war das anders. Auf der Insel saß oder lag Nachmittag für Nachmittag mutterseelenallein eine blonde junge Frau in einem weißen Badeanzug. Sie saß nur da, rührte sich nicht, ging nie ins Wasser. Einige der älteren Jungen waren schon zu der Insel hinübergeschwommen und hatten versucht, mit der jungen Frau ins Gespräch zu kommen, ohne Erfolg. Sie wollte mit niemandem reden. Bei ihrem Anblick fiel mir Evelyn wieder ein, aber das Mädchen auf der Insel sah trotz einer gewissen Ähnlichkeit deutlich älter aus. Flüchtig kam mir der Gedanke, dass Evelyn mir vielleicht auch bezüglich ihres Alters etwas vorgemacht hatte und nicht anderthalb Jahre jünger, sondern zwei Jahre älter war als ich. Von zu Hause brachte ich ein Fernglas mit, um das Mädchen auf der Insel genauer in Augenschein zu nehmen, und kein Zweifel, es war Evelyn. Sollte ich mit ihr Kontakt aufnehmen? Das hieße zur Insel zu schwimmen. Ich beschloss, zunächst einmal zu testen, ob ich für diese Distanz überhaupt fit war. Am Abend, als die blonde Seejungfrau nach Hause gegangen war, probierte ich es aus. Es ging besser, als ich gedacht hatte, aber ein wenig außer Atem kam ich schon. Die nächsten Abende übte ich, bis ich die Strecke hin und zurück ohne Anstrengung zurücklegen konnte. Dann machte ich mich nachmittags, Evelyn saß wieder alleine auf der Insel, auf den Weg, sie zu besuchen. Ich ging zu Fuß vom Schwimmverein am Ufer entlang In Richtung Schwimmklub, bis ich auf gleicher Höhe mit der Insel stand. Von dort war es nur etwa halb so weit wie vom Schwimmverein aus. Die Absicht war, mich der vermuteten Evelyn möglichst unbemerkt zu nähern. Das gelang auch. Sie bemerkte mich erst knapp vor der Insel. „Was willst du denn, Kleiner?“ fragte sie ungnädig. „Nichts Besonderes, Süße“, antwortete ich: „Ich wollte nur mal sehen, ob du die Loreley bist, von der alle reden.“ „Sonst noch was?“ fragte sie kühl. Nachdem ich nicht gleich antwortete, fuhr sie fort: „Richtig schwimmen kannst du ja wohl noch immer nicht“. „Wieso?“ „Die lange Strecke hast du dir wohl nicht zugetraut.“ „Stimmt“, sagte ich, „da muss ich erst noch üben“. „Na, dann üb mal schön“, erwiderte sie und damit war die Unterhaltung beendet.

      Am nächsten Nachmittag schwamm ich die lange Strecke zur Insel. Diesmal hatte ich einen Wasserball dabei, den ich vor mir her stupste. „Du schon wieder“, empfing mich Evelyn. „Was willst du denn mit dem Ball?“ „Mich festhalten, wenn ich müde werde und mit dir Ball spielen, aber erst muss ich mich etwas ausruhen.“ Ball spielen kam natürlich für Evelyn nicht