Christoph Klesse

Rückspiegelungen Episode 1 - Vom Verlieren der Liebe


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nie herausgefunden und auch nie versucht herauszufinden, was mit meinem Vater an diesem Abend los war. Nachfragen hätte den Zauber, und Zauber war im Spiel, gebrochen. Jedenfalls befürchtete ich das. Ich fragte auch Evelyn nie, wieso sie, als ich sie zum ersten Mal erblickte, nicht bei ihrer Familie saß, sondern direkt vor mir, sodass ich sie nicht übersehen konnte. Als wir uns sieben oder acht Jahre später über die Anfänge unserer Beziehung unterhielten, hatte sie, so gab sie jedenfalls zunächst vor, alles über die ersten Jahre unserer Bekanntschaft vergessen. Als dann ihre Erinnerung in Teilen zurückkehrte, waren wir uns schnell darüber einig, dass unsere Eltern, mindestens aber unsere Väter, arrangiert haben mussten, dass wir uns kennenlernten. Jedenfalls kam uns beiden diese erste Begegnung irgendwie abgekartet vor. Ich meinte damals auch, mich erinnern zu können, dass ihr und mein Vater sich länger unterhalten hatten, bevor mein Vater Evelyns Mutter küsste, aber sicher war ich mir nicht. Ich hatte kein Bedürfnis, das Küssen zu wiederholen, nicht mit Evelyn und schon gar nicht mit ihrer Mutter, der ich den ganzen Sommer über möglichst aus dem Weg ging. Durch das Küssen fühlte ich mich Evelyn allerdings verpflichtet, und ohne diesen ersten Kuss hätte ich mit Sicherheit in den folgenden Wochen nicht so geduldig versucht, mit diesem merkwürdigen Mädchen ins Gespräch zu kommen. Ich musste sie dazu bringen, mit mir zu reden. Und das war, wie sich herausstellen sollte, keine leichte Aufgabe.

      Erster Sommer: Das merkwürdige Mädchen

      In den nächsten Wochen traf ich Evelyn regelmäßig im Schwimmverein an, zumeist abends oder an den Wochenenden. Sie kam mit ihrer Familie, gelegentlich auch nur mit ihrer älteren Schwester. Meist war ich vor ihr da, und ließ mich dann am Strand nieder, immer an der gleichen Stelle auf halber Höhe zwischen See und Aufgang zu den Kabinen. Wenn Evelyn erschien, setzte sie sich nicht zu ihrer Familie, sondern breitete ihr Badetuch zwischen meinem Liegeplatz und dem Seeufer aus und setzte sich mit dem Rücken zum See, so dass sie mir das Gesicht zuwandte. Dann schloss sie die Augen. Damit gab sie mir ausgiebig Gelegenheit, mir ihre Gesichtszüge einzuprägen, was, wie sie mir viele Jahre später erklärte, tatsächlich ihre Absicht war. Wenn ich selber die Augen nur ein wenig offenhielt, um gerade noch zu erkennen, was sie anstellte, schlug sie ihre auf und schaute mich unverwandt an, wie sie später erläuterte, um sich an mich zu gewöhnen. Öffnete ich meine Augen wieder, so schloss sie ihre sogleich, aber offensichtlich nicht ganz. Wenn ich meine wieder schloss, schaute sie mich sofort wieder aufmerksam an. So ging das eine Zeitlang, vielleicht zwei Wochen.

       Schließlich raffte ich mich eines Nachmittags auf, ging zu ihr, setzte mich neben sie in den Sand und fragte: „Hast du Lust, dich mit mir zu unterhalten?“ Die Antwort war ein knappes „Nein!“. Ein wenig konsterniert sagte ich: „Na schön“, und ging wieder zu meinem Platz zurück. Das nächste Mal fragte ich nicht, sondern eröffnete das Gespräch mit einer Bemerkung über das Wetter und die Wasserverhältnisse. Sie würdigte mich keiner Antwort. So ging das einige Male. Das Äußerste, was ihr zu entlocken war, waren Bemerkungen wie: „Worüber sollte ich mit dir schon reden?“ oder „Mit Jungens kann man nicht reden!“ Ich war nahe daran, aufzugeben, aber ihr merkwürdiges Verhalten reizte mich. Was war das für eine seltsame Person, die behauptete, mich heiraten zu müssen, wovon sie nach wie vor mit großer Selbstverständlichkeit auszugehen schien, aber nicht mit mir sprechen wollte?

       Bei meiner Schwester erkundigte ich mich, worüber sich Mädchen unterhalten. Dann schlug ich Evelyn Themen vor: Puppen, Schlagersänger, Mode. Nichts verfing. Ich unterbreitete ihr Angebote, brachte zum Beispiel einen Ball mit: „Wollen wir Ball spielen?“ „Ball spielen ist doof!“ „Kommst du mit ins Wasser?“ „Ich gehe nicht ins Wasser“. Sie ging tatsächlich nie ins Wasser. Nur bis zum Bauch schlug ich ihr vor, nur bis zu den Knien, nur die Füße ins Wasser setzen. Alle meine Vorschläge wurden abgewiesen. Schließlich saßen wir nur noch schweigend nebeneinander. Das fand sie ganz in Ordnung. Wenn ich zwischendurch schwimmen gegangen war, aus dem Wasser zurückkam und mich mit der nassen Badehose auf mein Handtuch setzte, schimpfte sie mit mir, das sei ungesund. Ich müsse die Badehose wechseln und eine trockene anziehen. Das tat ich nun gerade nicht. Sich von diesem Mädchen auch noch herumkommandieren zu lassen, das kam nicht in Frage.

       Als es mir langweilig wurde, nur herumzusitzen, begann ich, Bücher mitzubringen und neben ihr sitzend zu lesen. Sie interessierte sich für meine Lektüre scheinbar nicht. Kaum war ich aber im Wasser, blätterte sie gleich verstohlen in meinem Buch, gab dies aber hinterher nicht zu. Selber lesen wollte sie nicht im Gegensatz zu ihrer Schwester, die eine richtige Leseratte war. „Ich höre lieber Musik“, kommentierte Evelyn.

       Gelegentlich erinnerte ich sie an unser Kennenlernen: „Wenn du mich später einmal heiratest, fändest du es nicht besser, wenn wir vorher anfangen miteinander reden?“ „Ich muss dich zwar heiraten, aber reden muss ich mit dir deshalb noch lange nicht“, bekam ich zur Antwort. Ich erzählte ihr schließlich: „Es gibt übrigens noch ein Mädchen, das mich heiraten will“, und berichtete ihr von der Vierjährigen und ihrem Bruder. Sie glaubte mir die Geschichte natürlich nicht und wollte die Kleine sehen und mit ihr sprechen. Dazu kam es schließlich auch, aber es dauerte ein paar Tage, denn der Vater des Mädchens besuchte den Schwimmverein mit seinen Kindern nur unregelmäßig. Fast hatte ich die Angelegenheit schon abgetan, als ich das kleine Mädchen eines Abends doch beim Spielen entdeckte. Und tatsächlich, auf Evelyns entsprechende Frage nannte die Kleine mich ihren zukünftigen Mann. Als Evelyn sie in harschen Ton aufforderte, sich solchen Unsinn aus dem Kopf zu schlagen, fing sie an zu weinen und drohte, ihren Vater zu rufen. Rasch zog ich Evelyn, die sich heftig aufregte, weg, bevor die Kleine ihre Drohung wahrmachen konnte.

       Der Grund, warum Evelyn das Wasser mied, war eine angeblich nicht überwindbare Angst. Sie behauptete, in der Nähe von Wasser einen Sog zu verspüren, der sie in die Tiefe ziehen wollte. „Und Schwimmen kann ich sowieso nicht“, sagte sie. Ich fragte sie, wie es denn zu Hause beim Baden in der Badewanne wäre, sie bade doch sicher regelmäßig. „Da habe ich meine Schwimmente, die beschützt mich,“ war die Antwort. Daraufhin schlug ich ihr vor, sie solle die Gummiente mitbringen, aber das wollte sie doch nicht. Also nahm ich von zu Hause die gelbe Badewannenente meiner Schwester mit. Damit brachte ich Evelyn immerhin dazu, mich einmal ans Ufer zu begleiten, wo ich die Ente umständlich ins Wasser setzte, aber diese Ente hatte keine Wirkung auf Evelyns angebliche Wasserphobie.

       Daraufhin befragte ich Evelyns Schwester, was es mit dieser Phobie denn auf sich habe, und ob nicht sie ihrer kleinen Schwester die Grundlagen des Schwimmens beibringen könne. Die Schwester, Claudia, erklärte mir kühl, ich solle sie doch bitte aus dem Spiel lassen. Mit Evelyn müsse ich schon selber zurechtkommen. Also brachte ich als nächsten Versuch meinen Schwimmgürtel mit in den Schwimmverein. Mit diesem Gummigürtel zum Aufblasen und Umschnallen, hatte ich mir -mit etwas Nachhilfe von meinem Vater- selber das Brustschwimmen beigebracht. Ich erklärte Evelyn, wie man den Gürtel aufzublasen hatte und anlegte und versprach ihr, sie zusätzlich zu stützen, Sie sollte sich im Wasser bäuchlings auf meine ausgestreckten Arme legen. Sie lehnte ab. Eine Weile versuchte ich, sie umzustimmen. Die Vorstellung, ihren Bauch zu umfassen, wurde fast zu einer fixen Idee. Schließlich drehte ich den Spieß um und erklärte ihr, ich könne noch nicht wirklich gut schwimmen, und sie könne mich stützen, indem sie ihre Arme unter meinen Bauch schob. Auch diese Vorstellung, ihre Hände auf meinem Bauch, erschien mir zunehmend reizvoll.

       Nachdem es mir partout nicht gelang, mit Evelyn ernsthaft ins Gespräch zu kommen, beschloss ich eines Tages, die Zeit, die ich schweigend neben ihr zu sitzen pflegte, besser zu nutzen, und brachte Schulbücher und Hausaufgaben mit. Sie war sofort interessiert und wollte ganz genau wissen, was ich da machte und lernte. Sie versuchte dann, mitzulernen oder an meinem Lernen teilzuhaben, indem sie mich abhörte oder mich aus meinen Schulbüchern vorlesen ließ. Bald brachte sie ihre eigenen Hausaufgaben mit, ließ sich von mir Aufgaben erklären und korrigieren. Jetzt war ich an der Reihe, sie abzuhören. Die gemeinsame Schularbeit machte bald richtig Spaß. Der Bann war gebrochen. Jetzt redeten wir miteinander.

       Für einen der Sonntage in diesem Sommer planten meine Eltern, im Hunsrück zu wandern und bestanden darauf, dass ich mitkäme. Am Tag vorher erklärte ich Evelyn, dass und warum ich an diesem Sonntag nicht in den Schwimmverein kommen könne. Sie hatte volles Verständnis dafür, dass ich dem Wunsch meiner Eltern Folge