Christoph Klesse

Rückspiegelungen Episode 1 - Vom Verlieren der Liebe


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er schon leicht verärgert, „ich gehe jetzt hin, gebe deiner kleinen Freundin einen Kuss in deinem Namen und sage ihr, dass du sie kennenlernen möchtest. Sie hat dann bestimmt nichts dagegen.“ „Du spinnst wohl“, erwiderte ich entsetzt, du kannst doch nicht einfach ein Mädchen küssen. Da bekämen wir ja richtig Ärger.“ „Das glaube ich zwar nicht“, meinte mein Vater leichthin: „ich werde aber folgendes machen, wenn es dir recht ist. Ich gebe der Mutter einen Kuss und lege bei ihr ein gutes Wort für dich ein. Dann gehst du hin, küsst die Tochter, und dann können wir endlich nach Hause fahren. Wenn du es übrigens besonders galant machen willst, führst du dich erst bei der Mutter ein. Also bringen wir es hinter uns, sonst bekommen wir heute nichts mehr zum Abendessen.“ „Das kannst du doch nicht machen,“ rief ich verzweifelt.“ Heute war meinem Vater alles zu zutrauen, davon war ich nach allem, was schon vorgefallen war, überzeugt. „Der Ehemann dieser Frau ist sicher auch in der Nähe, das gibt am Ende noch eine Auseinandersetzung. Der Mann wird sich das doch nicht gefallen lassen, wenn du einfach seine Frau küsst.“ „Das lass mal meine Sorge sein. Mit dem werde ich schon fertig,“ erwiderte mein Vater und marschierte los.

       Ich blieb sitzen und dachte bei mir: „Er wird es doch auf keinen Fall tun. Er wird doch unmöglich einer anderen Frau als meiner Mutter einen Kuss geben. Das kann er doch nicht tun. Er will sich nur einen Scherz mit mir machen. Das ganze Gerede vom Küssen ist nur ein alberner Jux, auf den ich nicht hereinzufallen brauche“. Aber mein Vater sprach die fremde Frau tatsächlich an, ja er scherzte mit ihr, wobei er ein-, zweimal zu mir herübersah. „Sie machen sich jetzt auch noch lustig über mich. Das ist die Höhe.“, dachte ich verbittert. „Jetzt stehe ich völlig blamiert da.“ Ich wollte mich schon abwenden, zumal mir war, als ob das Mädchen mich jetzt angrinste. Auch die Schwester hob den Kopf aus ihrem Buch und schien missbilligend in meine Richtung zu schauen. Da nahm mein Vater die fremde Frau in den Arm, flüsterte ihr etwas ins Ohr und küsste sie auf den Mund. Und die Frau ließ es sich gefallen. Ich glaubte zu träumen, rieb mir die Augen. Das bildete ich mir doch alles nur ein. Aber die Frau erwiderte den Kuss sogar und lachte dabei. Dann flüsterten sie noch miteinander, bevor mein Vater sie losließ und zu mir zurückkam.

       „Jetzt bist du dran“, sagte er knapp. „Die Mutter ist einverstanden. Los jetzt gib deinem Herzen einen Stoß. Heute ist mein Glückstag, und ich gebe dir von meinem Glück ein Stück ab. Du hast nichts zu befürchten. Heute kann nichts schiefgehen. Mach der Mutter ein Kompliment und dann küss die Kleine oder sprich mit ihr. Sie scheint ja wirklich nett zu sein.“ Das Mädchen schaute mich weiter an, so kam es mir jedenfalls vor. Lachte es mich aus? Wenn ich jetzt nicht meinen Mut zusammennahm, würde ich als Feigling dastehen. Langsam und ganz unerwartet spürte ich eine unbekannte Kühnheit in mir hochsteigen. Ich fühlte mich leicht, und ich stand auf wie in Trance und ging erhobenen Hauptes zu der Familie hinüber. Ich blickte nicht auf das Mädchen, sondern nur auf die Mutter.

       Ich musste um die beiden Mädchen herumgehen, bevor ich mich zu ihrer Mutter beugen konnte, die sich wieder hingesetzt hatte. „Sie haben hübsche, und sicher auch sehr nette Töchter“, hörte ich mich reden und fuhr gleich fort: „Wenn sie älter werden, werden sie sicherlich noch viel schöner. Denn sie gehen bestimmt nach Ihnen.“ „Du bist ja ein richtiger kleiner Kavalier“, antwortete diese. „Das hast du wohl von deinem Vater. Möchtest du mir auch einen Kuss geben?“ „Sehr gern“, sagte ich, und küsste sie schnell ganz leicht auf die Wange. „Dein Vater hat dir ja wirklich schon allerhand beigebracht“, lachte die Frau, und ich flüsterte ihr schnell ins Ohr: „Ich möchte gern ihre jüngere Tochter kennenlernen.“ „Oh, wenn du magst, dann küss ruhig beide“, lachte die Frau. „Lass mich aus dem Spiel“, warf die ältere Tochter ein -ich hielt sie für ein oder zwei Jahre älter als ich selber war- ohne den Kopf aus ihrem Buch zu heben. „Ich glaube, vom Alter passt die jüngere besser zu mir“, sagte ich. Und dann ging ich zu dieser, setzte mich vor ihr in den Sand und schaute sie an. „Ich heiße Robert“, sprach ich sie an, „ich möchte dich gerne kennenlernen.“ Sie sagte gar nichts, sondern schaute mich erst ernsthaft an, dann hielt sie mir eine Wange hin. Als ich mich ihr vorsichtig näherte, bog sie ihren Hals jedoch rasch zurück, so dass mein Mund ihre Wange nicht mehr erreichen konnte. Nachdem sie meine Verblüffung ausgekostet hatte, hielt sie mir die andere Wange vors Gesicht. Bevor ich jedoch einen Kuss platzieren konnte, das gleiche Spiel. „Es wäre einfacher, wenn du einen Moment stillhalten würdest“, flüsterte ich. „Du musst es richtig machen“, flüsterte sie zurück, “stell dich nicht so an!“ Und als ich sie verständnislos anschaute, fügte sie hinzu. „Du musst mich halten. Und blamier mich jetzt bloß nicht.“ Instinktiv legte ich einen Arm halb um sie, den Rest der Welt hatte ich in der Zwischenzeit vergessen, legte die freie Hand um ihren Hals und zog sie vorsichtig zu mir. Sie hielt die Augen geschlossen, und ich berührte mit meinen Lippen ganz vorsichtig ihren Mund. Als ich sie losließ und sie die Augen wieder aufmachte, schaute sie mich einen Moment verträumt an, so kam es mir jedenfalls vor, dann schlang sie blitzschnell die Arme um meinen Nacken und drückte ihre Lippen auf meine, deutlich fester und länger, als ich es umgekehrt getan hatte. „Vielen Dank“, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein, und sie sagte jetzt auch nichts mehr.

       Verstohlen blickte ich mich um. Mutter und Schwester schienen sich nicht weiter um mich zu kümmern. Meinen Vater konnte ich nicht sehen, auch niemanden, der ihr Vater sein konnte. Dieser unsichtbare Vater, von dessen Nähe ich überzeugt war, beunruhigte mich jetzt einigermaßen. Ich konnte mir die Familie nicht ohne Vater vorstellen. Und der musste irgendwo in der Nähe sein. Wenn auch die Mutter einverstanden war, dass ich ihre Tochter küsste, dem Vater musste das noch lange nicht recht sein. Ich war bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen, sollte der Vater auftauchen. Während ich mich noch unauffällig umschaute und dabei feststellte, dass die Küsserei jedenfalls keinen öffentlichen Skandal ausgelöst hatte, legte das Mädchen, das mich gerade geküsst hatte, eine Hand auf meinen Arm und sagte: „Lass mich jetzt bitte allein. Ich muss nachdenken.“ „Worüber denn?“, fragte ich ohne zu überlegen. „Darüber, was ich mit dir anfangen soll.“ „Du könntest zum Beispiel mit mir reden“, schlug ich vor. „So einfach ist das nicht“, erwiderte sie, „geh jetzt bitte!“ „Wenn du das möchtest“, murmelte ich, stand widerstrebend auf, wobei ich mich gleichzeitig irgendwie erleichtert fühlte, bedankte mich noch mit einem Nicken bei der Mutter und ging zurück zu meinem Vater. Um nicht mit ihm sprechen zu müssen, versteckte ich mich außer Sichtweite, um nachzudenken.

       Ich hatte es getan. Ich hatte sie geküsst. Das gab mir ein gutes Gefühl. Und sie gefiel mir. Aus der Nähe hatte sie mir sogar sehr gut gefallen. Sie hatte blaue Augen, die in einer Weise aufblitzen konnten, die mir bei anderen Mädchen noch nicht aufgefallen war. Sie war kein bisschen verlegen. Und langweilig, wie ich Mädchen ihres Alters eigentlich einschätzte, war sie bestimmt nicht. Sie hatte, soviel war klar, ihren eigenen Kopf, und sie hatte mich, unfassbar aber wahr, richtig geküsst. Das war völlig unerwartet gekommen, und ich konnte mir darauf keinen Reim bilden. Vielleicht wollte sie sich ja doch nur über mich lustig machen, aber in ihrem Kuss hatte nichts Kokettes gelegen. Sie hatte ernsthaft geschaut, was immer dies auch bedeuten mochte. Dann hatte sie mich allerdings gleich weggeschickt, und was sollte ich nun wiederum davon halten?

       Ich ging wieder zu der Stelle mit den Sitzbänken, wo das kleine Mädchen mit den Zöpfen und ihr Bruder immer noch spielten. Das Mädchen versuchte, den Bruder zu überreden, mit ihr Hochzeit zu spielen. Das anschließende Festmahl hatte sie mit Hilfe von feuchtem Sand und Förmchen schon vorbereitet. Sie wollte die Braut sein, der Bruder sollte den Bräutigam und zugleich den Priester vorstellen. Mit dieser Doppelrolle war der Kleine sichtlich überfordert. Außerdem gefiel ihm das ganze Spiel nicht. Ich setzte mich in die Nähe und beobachtete die beiden. Die Kleine bemerkte mich, kam auf mich zu und forderte mich auf, die Rolle des Priesters zu übernehmen. Sie bat mich nicht etwa, sie forderte es. Ich willigte ein teils aus Überraschung, teils aus Neugier. Ich wollte beobachten, wie sie sich, die einen ausgeprägten Willen zu besitzen schien, anstellen würde. Die beiden Kinder stellten sich vor mir auf, hielten sich bei der Hand. Als die Braut sich anschickte, ihr Jawort zu geben, und ich meine Hand auf die verschränkten Hände der beiden Kinder segnend legte, riss sich ihr Bruder los. So kam es, dass ich nur ihre Hand in meiner hielt, als sie „ja“ sagte. Ihr Bruder war jedoch schnell wieder eingefangen. Jetzt wollte die Braut noch einen Kuss von ihm haben. Er