Christoph Klesse

Rückspiegelungen Episode 1 - Vom Verlieren der Liebe


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radeln. Angekommen hielt ich vor den Umkleideräumen inne und blickte über die Büsche am Hang hinunter zum Strand, um Evelyn und ihre Familie zu orten. Der Strand war noch halbleer. Evelyns Familie war schon eingetroffen. Vater, Mutter und ältere Schwester spielten Ringe werfen. Von Evelyn war nichts zu sehen. Schließlich entdeckte ich sie im Wasser, draußen im See, wo man längst nicht mehr stehen konnte. Sie schwamm, genauer gesagt, sie kraulte, und das ziemlich gut, besser jedenfalls als ich es konnte, und ziemlich ausdauernd. Ich hielt mich hinter den Büschen verborgen und beobachtete sie fasziniert. Zwar hatte ich ihr ihre Wasserphobie nicht abgenommen, aber dass sie so gut schwimmen konnte, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wartete, bis sie wieder an Land kam, aus ihrer Badetasche einen trockenen Badeanzug entnahm und in Richtung der Damenumkleide ging. Dann begab ich mich rasch in die Herrenumkleide und zog mich um. Ich wartete noch ein paar Minuten ab, bevor ich zum Strand lief und Evelyn begrüßte. Einmal mehr forderte ich sie auf, mit ins Wasser zu kommen, einmal mehr lehnte sie ab. Also ging ich wie gewohnt alleine schwimmen, und blieb diesmal besonders lange im Wasser, pries ihr anschließend das Schwimmen an, sie wisse ja gar nicht, was sie versäume. Es sei schön, dass ich das Schwimmen mochte, aber für sie sei das nichts, sie sei ja schließlich auch ein Mädchen, gab sie zur Antwort. „Aber deine Schwester schwimmt doch sehr gern“, warf ich ein. „Ach die versucht in allem wie ein Junge zu sein“.

       Einmal hatte ich eine Hausaufgabe, die sich auf eines von Grimms Märchen bezog. Ob sie dieses Märchen kenne, fragte ich Evelyn. Sie verneinte: „Ich lese keine Märchenbücher, die sind nur für Kleinkinder.“ Ich forschte weiter, ob sie denn überhaupt Märchen kenne. „Nö, kein einziges“, sagte sie und behauptete im gleichen Atemzug, nie hätte ihr jemand vorgelesen, als sie noch klein war. Also las ich ihr Frau Holle vor, und sie fand das Märchen doch ganz interessant und erlaubte großzügig, dass ich noch weitere Märchen vorlas. Es dauerte nicht lange, bis sie mir vorschlug, ihr Märchen nicht vorzulesen, sondern aus dem Gedächtnis zu erzählen, das sei doch viel schöner. So wurde ich zum Märchenerzähler. Einmal änderte ich die Handlung ein wenig ab. Evelyn korrigierte mich sofort. Das Gleiche passierte auch bei anderen Märchen, und es wurde schnell klar, sie kannte die Geschichten, die ich ihr erzählte, schon längst. Wieder hatte sie mir aus unerfindlichen Gründen etwas vorgemacht.

       Daraufhin fing ich an, Evelyn in meine Erzählungen einzubauen, zunächst in Nebenrollen, dann in einer Hauptrolle. Für solche Geschichten, in denen sie selber vorkam, war sie Feuer und Flamme. Sie schlug auch Rollen und Szenen selbst vor, aber selber Geschichten erzählen, das wollte sie nicht. Ihre eigenen fantastischen Heldentaten zu hören, davon konnte sie aber nicht genug bekommen.

       Beim Märchenerzählen wäre es uns peinlich gewesen, wenn andere Badegäste mitgehört hätten. Insbesondere die selbsterfundenen fantastischen Szenen waren nicht für fremde Ohren bestimmt. Deshalb flüsterten wir zuerst, stellten uns dann zum Erzählen ans Seeufer, wo sich nur wenige Leute aufhielten. Schließlich stellten wir uns erst knöcheltief, dann knietief ins Wasser, wogegen Evelyn jetzt keine Einwände mehr hatte. Die ursprünglich behauptete Wasserscheu war schlagartig verschwunden. Schließlich standen wir beim Erzählen bis zum Bauch im Wasser und kurz darauf bis zum Hals. Evelyn ergänzte die Geschichten, die ich mir ausdachte und die zunehmend länger und komplexer ausfielen, durch eigene Ideen. In einer Geschichte ließ ich Evelyn um ein Haar ertrinken. Beinahe wäre es mir nicht gelungen, sie zu erretten, als unser Piratenschiff auf ein Riff auflief, da ich ein schlechter Schwimmer war. „Wenigstes einer von uns sollte richtig schwimmen können“, kommentierte ich. Das leuchtete ihr ein, und sie war jetzt bereit, mich bei meinen Schwimmübungen zu unterstützen.

       Also brachte ich wieder meinen Schwimmgürtel mit, schnallte ihn mir auf den Rücken, wo er ziemlich nutzlos war, und bat Evelyn, mich mit ihren Armen am Bauch zu stützen. Ihre Hände auf meinem Bauch zu spüren, war ein angenehmes Gefühl. Recht bald war der Gürtel nicht mehr erforderlich, und es dauerte nicht lange, bis Evelyn zu dem Schluss kam, es mache doch Sinn, wenn sie ebenfalls das Brustschwimmen erlernte. Jetzt war ich an der Reihe, sie zu halten. Sie legte sich dazu bäuchlings auf meine ausgestreckten Arme und strampelte mit Armen und Beinen. Auf den Gummigürtel verzichtete sie. Wie ich es mir vorgestellt hatte, empfand ich meine Hände auf ihrem Bauch als sehr angenehm. Überaus schnell wurden aus dem Strampeln richtige Schwimmbewegungen, und nach wenigen Tagen schwamm Evelyn mitten im Üben unversehens aus meinen Armen heraus und bemerkte dabei: „Das wird doch langsam langweilig.“ Von diesem Moment an hatten wir beide „ausgelernt“ und machten einander nichts mehr vor. Evelyn verwandelte sich in eine wahre Wasserratte, und wir schwammen jetzt gern um die Wette, wobei ich es anfänglich gar nicht leicht hatte, mit ihr beim Kraulen mitzuhalten. Dafür war ich ihr im Brustschwimmen überlegen. Wir übten beide fleißig, um unsere Technik zu verbessern. Evelyn entwickelte einen richtigen Ehrgeiz. Wenn ich sie beim Wettschwimmen großmütig gewinnen ließ, schimpfte sie mit mir. Aus dem Wettschwimmen ergab sich, dass ich sie beim Schwimmen einholen und fangen sollte. Wenn ich sie eingeholt hatte, wollte sie von mir umarmt werden. Unversehens war sie eine richtige Freundin geworden.

       Natürlich war ich in Sorge, dass unsere unschuldigen Zärtlichkeiten von anderen Badegästen bemerkt werden könnten. Wir beschränkten unsere Spiele deshalb auf den späteren Abend und am Wochenende auf den frühen Morgen, Zeiten, zu denen das Bad nur schwach besucht war. Für die belebteren Tageszeiten erfand Evelyn als neues Spiel das Tauchen. Sie hatte im Gegensatz zu mir keine Schwierigkeiten, unter Wasser die Augen zu öffnen. Wenn ich mich breitbeinig hinstellte, tauchte sie zwischen meinen Beinen hindurch. Ich versuchte umgekehrt das Gleiche. Eines Abends hatte sie eine neue Idee und versuchte, mir unter Wasser die Badehose herunterzuziehen, was ich aber nicht zuließ. Wir einigten uns darauf, beide unsere Badebekleidung selbst auszuziehen und nackt zu schwimmen oder uns nackt zu umarmen. Evelyn überließ mir dabei ihren Badeanzug zum Halten. Sie schwamm und tauchte völlig unbefangen und ohne auf ihre Umgebung zu achten, während ich ein sorgsames Auge auf die anderen Badenden, insbesondere auf meinen Vater hatte. Wenn Evelyn abtauchte, hob sich ihr unbedeckter Po kurz aus dem Wasser heraus. Ich warnte sie wiederholt, dass dies früher oder später jemandem auffallen würde und bat sie vergebens, vorsichtiger zu sein. Fast war ich erleichtert, als die Person, die Evelyns Blöße schließlich entdeckte, mein eigener Vater war. Der zeigte Verständnis für Evelyns kindliche Unbefangenheit, erklärte, er sehe darin nichts Schlechtes, warnte uns aber beide, dass andere Leute dies nicht so großzügig sehen würden wie er. Er kündigte an, dass er nunmehr selber ein Auge auf Evelyn und mich haben werde. Evelyn war die wohlmeinende Ermahnung höchst peinlich. Nacktbaden kam jetzt nicht mehr in Frage. Dafür tauchten wir jetzt um die Wette. Wir tauchten nach Steinen und anderen Gegenständen, die wir im Wasser versenkt hatten oder im flachen ufernahen Sand am Seegrund fanden. Mittlerweile hatte ich gelernt, die Augen unter Wasser offenzuhalten. Vorher hatte ich aber schon eine Taucherbrille angeschafft. Mit deren Hilfe entdeckte ich, dass zwischen den Füßen der Badenden kleine Fische schwammen. Am Wochenende morgens ließen sich auch größere Fische nahe am Ufer blicken. Einmal entdeckte ich sogar einen Hecht, der ganz gemächlich in Ufernähe an mir vorbeischwamm. Evelyn wollte mir nicht glauben, als ich ihr von meinen Entdeckungen berichtete. Sie weigerte sich standhaft, die Taucherbrille, „das blöde Ding“, auszuprobieren.

       Bei meinen Tauchübungen mit Brille hatte ich herausgefunden, dass der sandige Seegrund vom Ufer aus zunächst flach abfiel bis zu einer Tiefe von etwa drei Metern, um dann steil abzusinken. Dort wuchsen aus der Tiefe dichte Felder von langen Wasserpflanzen hoch bis zu einer Höhe von vielleicht ein oder zwei Metern unterhalb der Wasseroberfläche. Ich warnte Evelyn davor, in diesem Bereich zu tauchen, aber sie wollte mir nicht glauben, meinte, ich wolle ihr mit den Unterwassergewächsen nur Angst einjagen. Prompt verfing sie sich schon beim ersten Tauchversuch in den langen Fäden, geriet in Panik, fing an zu strampeln, wodurch sie sich erst recht in dem Pflanzenwald verhedderte und schluckte Wasser. Sofort war ich zur Stelle, packte sie und zog ihren Kopf über Wasser. Sie beruhigte sich rasch, und ich hielt sie fest, bis wir wieder Boden unter den Füssen hatten. Im flachen Wasser ließ ich sie los, aber jetzt wollte sie von mir richtig gerettet werden: „Du musst mich retten! Rette mich gefälligst!“ sagte sie, und als ich sie an Land gezogen hatte, forderte sie: „Du musst mich wiederbeleben!“ und als ich verständnislos schaute, präzisierte sie: „Ich brauche eine Mund-zu-Mund-Beatmung.“

       Die Szene war -von uns unbemerkt- nicht