Christoph Klesse

Rückspiegelungen Episode 1 - Vom Verlieren der Liebe


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noch retten müssen!“ schloss sie. Da mir keine passende Antwort einfiel, gab ich vor, plötzlich einen heftigen Krampf im Bein zu verspüren. „Mir wird ganz übel“, stöhnte ich und tat gerade so, als könne ich mich an der Insel kaum noch festhalten. Gleich war Evelyn sehr besorgt und sprang ins Wasser, um mich festzuhalten. Ich hing mich wie ein schlaffer Sack an sie mit meinem ganzen Körpergewicht, was für einen Moment ihren Kopf unter Wasser zog. Sie prustete. Ich drückte sie an mich und küsste sie auf den Mund. Sie protestierte zunächst, schmiegte sich dann aber willig in meine Arme. „Danke, dass du mich retten wolltest,“ sagte ich. Von diesem Augenblick an waren wir wieder miteinander befreundet.

      Danach trafen wir uns regelmäßig auf der Insel. Die ersten Male unterhielten wir uns oder sprangen gemeinsam ins Wasser. Bald aber hätten wir gern gemeinsam gelesen oder zusammen Hausaufgaben gemacht wie im Jahr vorher, nur fehlte uns ein wasserdichtes Behältnis zum Transport von Büchern und Heften. Schließlich fand ich in einem Geschäft für Gummi- und Sportwaren eine preiswerte wasserdichte Box in Form eines kleinen Fasses. Ich erwarb zwei und schenkte eines Evelyn. Wir setzten uns jetzt gern Rücken an Rücken, lernten jeder für sich, oder wir begutachteten gegenseitig unsere Hausaufgaben, oder lasen einander vor. Gestört wurden wir nur selten. Den wenigen ungebetenen Besuchern wurde es auf unserer Insel schnell langweilig.

      Mehrere Freundinnen von Evelyn waren Mitglieder im Schwimmclub der Firma, der die künstliche Insel gehörte. Evelyn wollte, dass wir uns diesen Freundinnen öfter mal anschlossen. So kam es, dass ich mit fünf Mädchen Ball spielen musste. Dazu stellten sich die Spielerinnen und ich (ich nur notgedrungen) in einem Kreis auf und warfen den Ball reihum einander zu, ein schrecklich langweiliges Spiel. Auch Evelyn hatte bald keine Lust mehr, sich mit ihren langweiligen Freundinnen abzugeben.

      Nach dem Ballspiel zogen wir uns in den Umkleidekabinen an. Einmal belegte ich die Kabine neben Evelyn. Wie mir gleich auffiel, war in die Holzwand zu ihrer Kabine ein kirschgroßes Loch gebohrt, durch das ich einen Blick auf Evelyn werfen konnte. Sie stand nackt da und rührte sich nicht. Ich betrachtete sie eingehend, bis mir dämmerte, dass sie gemerkt haben musste, dass sie von mir beobachtet wurde, und dass sie stillhielt, damit ich sie in Ruhe betrachten konnte. Wir sprachen über den Vorgang nicht.

      Im Blickfeld unserer Insel befanden sich die Einrichtungen des Schwimmvereins für Wassersport, darunter ein abgetrenntes Areal mit zwei Wasserballtoren. Ein paar ältere Jungen versuchten, eine Wasserballmannschaft zusammenzustellen. Auch ich wurde eingeladen. Evelyn hatte nichts dagegen, und das Spiel war für mich eine willkommene Abwechslung. Nachdem sie ein paar Mal zugeschaut hatte, wollte Evelyn ebenfalls mitspielen. Der Mannschaftskapitän war zunächst dagegen. Als Evelyn aber ihre Kraulkünste vorführte, änderte er seine Meinung. Evelyn war den Jungen durchaus ebenbürtig. Sie schwamm besser als die meisten. Ich beobachtete allerdings, dass ältere Jungen sie unnötig festhielten oder anfassten. Das gefiel mir gar nicht. Einem Mitspieler, der augenscheinlich Gefallen an ihr gefunden hatte und sie auffällig berührte, machte ich klar, dass er sie in Ruhe lassen sollte. Sie sei meine Freundin. Ich verlieh meinen Worten Nachdruck, indem ich dem Jungen mein Taschenmesser zeigte. Der war beeindruckt und ließ Evelyn fortan in Ruhe. Der Mannschaftskapitän hatte mich mit dem Messer beobachtet und stellte mich zur Rede. Ich erklärte ihm die Situation. Er zeigte Verständnis: „Ihre Freundin ist ja wirklich sehr hübsch.“ Aber Mitspielen dürfe ich nicht mehr, solange ich das Messer mit mir führte. Ich besprach die Angelegenheit mit Evelyn, der jetzt selber auffiel, dass einige der Jungen mehr an ihrem Körper als am Ball interessiert waren. So gaben wir das Wasserballspiel auf.

      Nach diesem Intermezzo entfaltete sich das Thema dieses zweiten Sommers. Evelyn wollte ein Junge sein oder werden. Sie interessierte sich für alles, was Jungen treiben und erwartete von mir, dass ich es ihr zeigte und beibrachte.

      Eine unserer ersten Übungen bestand darin, ein kleines Lagerfeuer zu entzünden. Es dauerte ein bisschen, bis Evelyn kapiert hatte, dass man Äste nicht direkt entflammen konnte, sondern eine Starthilfe aus dünnen Hölzchen oder trockenem Moos benötigte. Aber bald hatte sie den Bogen heraus, und wir konnten Kartoffeln in der Asche garen. Die schmeckten ihr nach anfälliger Skepsis vorzüglich.

      Unser Spielgelände umfasste einen Weiher, umgeben von Büschen und Bäumen. Hier konnten wir sehr zum Ärger der Angler größere Feuer in Gang setzen, indem wir das Schilf am Ufer anzündeten. Das gab uns ein Gefühl der Macht, ließ sich aber erst wiederholen, wenn das Schilf nachgewachsen war.

      Als nächstes zeigte ich Evelyn, wie man auf Bäume klettern und von Ast zu Ast springen konnte. Im Klettern war sie richtig gut, im Springen dagegen wie erwartet zu kühn und zu unvorsichtig. Einmal saßen wir recht hoch oben in einer Astgabel. Sie schmiegte sich an mich. Ich legte den Arm um sie und versuchte zu erklären, warum ich es für keine gute Idee hielt, dass sie keine Frau, sondern ein Mann werden wollte. „Du gefällst mir als Mädchen viel besser. Und außerdem könnten wir nicht so zusammensitzen, wenn du ein Knabe wärst.“ „Wieso nicht?“ wollte sie wissen? Jungen können nur mit Mädchen zärtlich sein. Das hat die Natur so eingerichtet.“ „Darüber muss ich nachdenken,“ antwortete sie und kuschelte sich noch enger an mich.

      Um den Weiher herum verlief ein schmaler Pfad. Man konnte ihn mit dem Rad befahren. Quer über dem Pfad waren Baumwurzeln freigelegt Sie bildeten natürliche Hindernisse. Außerdem ging es auf und ab, teils mit ziemlichem Gefälle. Man musste gut aufpassen, um nicht zu stürzen und im Weiher zu landen. Ein beliebtes Spiel waren Radwettrennen um den Weiher herum. Der Pfad stellte für Evelyn eine unwiderstehliche Herausforderung dar. Sie war das einzige Mädchen am Weiher und hatte den Ehrgeiz, unbedingt die Schnellste sein, schneller als alle Jungen. Ich schwitzte Blut und Wasser, wenn sie wieder einmal um ein Haar gestürzt wäre. Wenn ich sie zu bremsen versuchte, lachte sie mich nur aus.

      An einem der zahlreichen Baggerseen rostete ein riesiger ausgemusterter Schaufelradbagger vor sich hin. Man konnte herrlich auf ihm herumklettern und in der Fahrerkabine, nachdem man sie mit einem einfachen Vierkantschlüssel aufgesperrt hatte, Knöpfe und Hebel betätigen. Letzteres war allerdings nicht mehr möglich, als Evelyn und ich den Bagger aufsuchten. Die Kabine war jetzt mit einem Kettenschloss gesichert. Das war enttäuschend, aber Herumklettern konnte man immer noch. Ich machte es Evelyn gerade vor, als unversehens ein Mann auftauchte, der sich als Angestellter der Firma auswies, der das Gelände samt Bagger gehörte. Der Mann machte uns klar, das Betreten des Baggers sei verboten. Er deutete auf ein kleines Schild, das Unbefugten das Betreten untersagte. Das Schild war neu. Ich sagte, dass wir nur ein bisschen klettern wollten und das neue Verbotsschild übersehen hätten. Der Mann erklärte, kürzlich sei teures Werkzeug aus der Kabine gestohlen worden, und er müsse unsere Personalien aufnehmen. Man würde sich dann mit unseren Eltern in Verbindung setzen. Ich erfand spontan eine Adresse, der Mann konnte meine Angaben ja nicht überprüfen, aber Evelyn korrigierte mich und erklärte dem Mann ungerührt: „Dieser Name und diese Anschrift stimmen nicht.“ Und sie gab die richtigen Angaben preis. Das ärgerte mich ziemlich. „Man darf nicht lügen“, erklärte Evelyn. Ich verkniff es mir zu antworten.

      Nach dem unerfreulichen Erlebnis am Bagger wollte ich meine Demonstration männlicher Aktivitäten beenden, aber Evelyn lag mir solange in den Ohren, bis ich mich bereitfand, sie zu einer letzten Unternehmung mitzunehmen. Nicht weit von meinem Elternhaus lag die Ebertsiedlung, ein Wohnviertel aus den zwanziger Jahren bestehend aus Wohnblocks, die im Karree so angeordnet waren, dass sich großzügige Höfe bildeten. In einem dieser Höfe hatte sich in einem tiefer liegenden Betonbecken durch Regenwasser ein Teich gebildet, in dem es von Molchen wimmelte. Die Vertiefung führte zu einer Eisentür. Ältere Jungen hatten festgestellt, dass die mit zwei Hebeln versehene Tür nicht abgeschlossen war und in einen begehbaren unterirdischen Gang führte. Der Gang enthielt Fernheizungsrohre. Für die Jungen in der Umgebung wurde er rasch zu einem touristischen Ziel. Die älteren Jungen veranstalteten regelrechte Führungen. Mit Kerzen oder Taschenlampen ausgestattet konnte man dem Gang für etwa einen Kilometer folgen. Dabei unterquerte man Straßenbahnlinien. In dem Tunnel konnte man die Fahrgeräusche ziemlich laut hören und wusste dadurch, wo man sich befand.

      Eines schönen Tages führte ich Evelyn zum Eingang des Tunnels. Das Molchbecken war überraschend trockengelegt, und der Eingang zum Tunnel war abgeschlossen. Das war enttäuschend, aber ich fand heraus, dass ein älterer Junge die Tür aufschließen konnte. Ich suchte