Gerhard Grollitsch

An den Grenzen der Wirklichkeit


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wollte dich auch gerade anrufen.“

      „Heute Abend“, sie klang atemlos.

      „Es tut mir leid, aber ich arbeite auswärts und weiß nicht, wann ich zurück sein kann.“

      „Dann morgen Abend.“

      „Das geht.“

      „Um neunzehn Uhr beim Rathaus?“

      „Ich kann es kaum erwarten.“

      Völlig übermüdet kam ich nach Hause und freute mich auf mein Bett. Aber ich konnte einfach nicht einschlafen

      Ich saß im Vorraum zu Schorschis Büro alleine am Tisch, als der sich zu mir setzte. „Max hat mir berichtet, dass du dich gut machst. Du bist ein beachtenswerter Kämpfer.“

      „Ich glaube, ich boxe schon ganz passabel, jedenfalls habe ich alle Kämpfe gewonnen, nur einmal gab es ein Unentschieden.“

      „Aber nie ein KO. Warum? Hast du keinen Punch?“

      „Ich glaube schon. Max hat mir gesagt: Du hast einen gefährlichen Schlag, aber benütze ihn selten. Es genügt überlegen zu sein. Kämpfe mit feiner Klinge, sportlich fair. Was gibt dir das, wenn dein Gegner am Boden liegt und womöglich zum Krüppel wird? Den hast du dir dann zum Feind gemacht. Wenn er aber deine kämpferische Überlegenheit anerkennen muss und sieht, dass du ihn stehen lässt, wird er zum Sportkameraden, vielleicht sogar zum Freund, und Freunde sind wertvoll.“

      „Ja, das ist typisch Max. So ist er halt. Mich interessiert weniger, ob du ein guter Boxer bist. Das setze ich voraus. Aber du hast ein Kämpferherz und traust dich was. Ich glaub, bald muss ich dir größere Aufgaben geben.“

      Wäre ich, jener Junge, der fasziniert an den Worten des großen Anführers hing, einigermaßen bei Verstand gewesen, hätte dieser Kindskopf jetzt gehen müssen, weil er ahnen musste, was die höheren Aufgaben wohl zu bedeuten hatten.

      Ich war in einem zerrissenen Zustand. Ich freute mich auf die täglichen Boxstunden, aber ebenso freute ich mich auf die Gespräche mit Herrn Bobisch.

      Die Schere konnte nicht weiter auseinanderklaffen. Deshalb schottete ich mich ab.

      Ging ich zum Boxen, war ich Kämpfer, ging ich in die Buchhandlung, war ich ein interessierter Junge.

      Jetzt bei Schorschi hörte ich zu, denn der wurde sehr gesprächig.

      „Wenn du glaubst, wir wären nur auf den Besitz anderer aus, irrst du dich. Wir führen nur einen Kampf gegen die Gestopften. Für unsere Leute, die Ausgebeuteten, auf deren Rücken der Kapitalismus wächst, mache ich das, auch wenn wir deshalb von der Gesellschaft als Kriminelle bezeichnet werden. Die Philosophen würden sagen, ich wäre ein Fundamentalist. Mag sein. Es kommt auf den Blickwinkel an.

      Wir Unterdrückten sind die Mehrheit der Gesellschaft, und es kann doch nicht sein, dass eine Minderheit die Mehrheit terrorisiert und den von der Masse erarbeiteten Wohlstand einfach für sich absaugt.

      Ich bin ein wichtiger Teil dieser Masse, der Wichtigste, weil ich mich aktiv zur Wehr setze. Ich nehme mir das Recht zur Umverteilung, denn ich bin im Besitz der Wahrheit, und deshalb im klassischen Sinn struktureller Fundamentalist.“

      Vor meinen Augen erwuchs das Bild eines Propheten und ich nahm mir vor, dies mit Herrn Bobisch zu diskutieren.

      Aus seiner Perspektive war also Schorschi zum Heiligen der Mittellosen mutiert, und es machte stolz, zum Kreis eines Heiligen zu gehören.

      „Was ist ein Fundamentalist?“

      Herr Bobisch strich über seinen Bart.

      „Im Grunde gibt es kaum einen Unterschied zwischen religiösen und politischen Fundamentalisten. Und doch. Die religiösen Fundamentalisten sind, nach ihrer Meinung, im Besitz der reinen Wahrheit, politische Fundamentalisten glauben die Wahrheit zu kennen und praktisch umsetzen zu müssen.

      Beide finde ich gesellschaftsfeindlich, weil ihrer Berufung nach elitär, und damit einseitig, völlig konträr zu einem einigermaßen demokratischen Prinzip.“

      „Das verstehe ich nicht“, protestierte ich. „Wenn jemand überzeugt ist und alles in Kauf nimmt, verkrustete Strukturen aufzubrechen, ist er doch im Sinne der Gesellschaft ein Held“, warf ich ein.

      „Das kann schon sein. Es hängt immer davon ab, wie seine Position in diese eingebunden ist. Idealistische Einstellung kann sich, wenn sie fundamental wird, gesellschaftsfeindlich auswirken, und zwar dann, wenn sie sich vom Bedürfnis der Menschen, für die eingetreten werden soll, abhebt. Machterhaltung wird zum Selbstzweck. Sie schottet sich ab und entwickelt sich schließlich zu einer Philosophie der Auserwählten.“

      „Und bei den Religionen ist es auch so?“, fragte ich.

      Er nickte.

      „Gott wurde von Menschen instrumentalisiert, um über andere Macht zu gewinnen.

      Herr Bobisch suchte in einem Regal und gab mir ein Buch. „Lies das, wenn dich dieses Thema interessiert.“

      Er sah mein Zögern und meinte beruhigend: „Nein, du musst es nicht kaufen. Lies es, frag mich, und bring es dann wieder.“

      Endlich versank ich im Schlaf, und als ich aufwachte, stand mein Entschluss fest.

      Ich würde Erika alles über mich offenlegen.

       Erika

      Ich flog Hermann in die Arme, als ich ihn kommen sah. Wir gingen, fast wie schon gewohnt, über den Heiligengeistplatz, den Schillerpark, in Richtung Kreuzbergl.

      Ich war aufgeregt und konnte es fast nicht mehr aushalten, meine Neuigkeit loszuwerden.

      Am Schillerpark stand etwas abseits eine Parkbank. Ich zog Hermann dorthin.

      „Mein Vater will dich kennen lernen.“

      Hermann schaute mich ängstlich an.

      „Ich muss dir etwas sagen, es fällt mir sehr schwer“

      „Zuerst ich“, unterbrach ich ihn und gab ihm einen Kuss. „Sei mir nicht böse, dass ich dir nicht von Anfang an gesagt habe, wer ich bin.“

      Verständnislosigkeit begegnete mir in seinem Blick.

      „Mein Vater ist der Inhaber der Firma Kerbler.“ Nun war es heraus, und ich beobachtete mit Herzklopfen seine Reaktion.

      Zunächst war er sprachlos.

      Dann brach es aus ihm heraus.

      „Ach, deshalb haben wir uns dort getroffen, und keiner hat mir etwas gesagt. Die Frau Pontasch wollte sich wohl über mich lustig machen, oder war ich für sie nicht standesgemäß?“

      „Das hat sie sicher nicht gedacht, aber wahrscheinlich wollte sie mir nicht vorgreifen.“ Ich versuchte ihn schelmisch anzulächeln. „Immerhin hat sie dir meine Handynummer gegeben.“

      Hermann schien sich zu beruhigen und meine Küsse taten ein Übriges.

       Hermann

      Ich hätte nie gedacht, dass mir jemals eine Frau solche Probleme bereiten würde, schon gar nicht meine geliebte Erika.

      Jetzt aber war sie für mich zum ernsten Problem geworden. Sie war aus reicher Familie, ihr Vater würde mich absolut nicht akzeptieren, wenn er über mich Bescheid wüsste.

      Ich war ratlos und zutiefst unglücklich.

      Würde ich mich offenbaren, war ich mir sicher, Erika zu verlieren.

      Dieser Gedanke war unerträglich. Ich war doch kein Selbstmörder, denn mich von ihr trennen zu müssen, schien mir gleichbedeutend damit, gewaltsam aus dem Leben zu scheiden.

      Stillschweigen wäre ein Vabanquespiel, denn wenn es dann doch herauskäme, wären die Folgen nicht absehbar.

      Aber müssten sie unbedingt zur Trennung führen? Vor allem dann, wenn wir Kinder hätten?