Gerhard Grollitsch

An den Grenzen der Wirklichkeit


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Beruflich soll ich eine Entwicklungsabteilung für Sondermaschinen aufbauen und finanziell besteht die Möglichkeit, zum Geschäftsführer aufzusteigen, und auch eine Beteiligung wurde mir in Aussicht gestellt.“

      Das schockierte mich. Beteiligung?

      Vater wird doch nicht so verrückt sein, diese Familie ins Unternehmen zu holen, dachte ich, denn wenn er beteiligt wäre, hätte Elvira wohl das Reden. Scheint mir sehr nach einem Attentat der Daniels auf unser Werk zu werden. Da muss ich mit Vater ein ernstes Wort sprechen.

      Weiter oben befand sich ein Gasthof mit wunderbarem Blick auf die sonnig beschienene Bergwelt.

      Wir studierten die Speisekarte mit einem sehr bäuerlichen Angebot, hier auf der Alm durchaus zu erwarten.

      „Ist das essbar?“, fragte Theobald seine Mutter, „saure Suppe, für meinen empfindlichen Magen?“

      „Sie ist sehr gut“, fiel ich ein, „in unserem Alter muss man dem Magen doch auch etwas zutrauen können.“

      Ich erntete einen bösen Blick von Elvira. „Vielleicht solltest du doch etwas vorsichtig sein“, riet sie ihm.

      „Dann lass ich die Suppe besser weg. Schweinsbraten mit Knödel?“

      „Wenn er nicht zu fett ist, ja, aber vielleicht ohne die Knödel, wer weiß, wie schwer die sind“, gab Elvira zu bedenken und ergänzte mokant: „Erwin, dass man hier keine internationale Küche hat!“

      Ich schaute Theobald intensiv an und musste mich einfach einmischen.

      „Schweinsbraten muss fett sein, sonst schmeckt er nicht. Versuchen Sie es, Sie werden es schon überleben.“

      „Gut“, meinte er schließlich und ergänzte heldenhaft: „Ich probier es.“

      Ich hatte gesiegt, aber zu Elvira hinzublicken wagte ich doch nicht. So schluckte ich meinen Triumph in mich hinein, fühlte mich dabei aber sehr wohl.

      Nachdem wir den Berg wieder heruntergeklettert waren, kamen wir bei einer einladenden Konditorei vorbei.

      Mein Vater nahm Elvira bei der Hand.

      „Komm, ich muss jetzt diesen berühmten Kaffee haben und du kannst die legendären Indianer mit Schlag genießen. Die gibt es in dieser Qualität nirgends.“

      Er duldete keinen Widerspruch und so saßen wir bald um den Cafétisch.

      Theobald hatte eine warme Milch bestellt und durfte von dem riesigen Indianer seiner Mutter kosten.

      Auch dieser Tag ging zu Ende und ich erfreute mich an den Gedanken, die keine Sekunde mein Bewusstsein verließen, den Gedanken an Hermann und unser letztes Beisammensein.

       Hermann

      Ich war wie benommen. Doch untypisch für einen Mann. Aber seit diesem Abend, diesen Küssen, gab es in meiner Welt nur noch Erika.

      Diese übertraf alle Idealvorstellungen, die mir einst jener Buchhändler aus der Leebgasse zu vermitteln bemüht war.

      Zuerst wurde er von mir bestohlen, dann ein väterlicher Freund, der Beste, den ich je hatte.

      Die Hauptschule lag hinter mir und die Aufnahmsprüfung für die HTL war bestanden.

      Wir bekamen eine Liste von Büchern, die angeschafft werden mussten. Da ich nur die eine Buchhandlung kannte, war mir klar, dass ich mich überwinden müsste, diese aufzusuchen.

      Kleinlaut betrat ich den Laden und zwang mich Herrn Bobisch in die Augen zu sehen. Er blickte freundlich zurück, und das gab mir Mut. Trotzdem brachte ich kein vernünftiges Wort heraus und überreichte ihm schließlich den Zettel mit den gewünschten Büchern.

      Konzentriert studierte er ihn, während er auf ein Regal wies und sagte: „Schau dich derweil um.“

      Verlegen ging ich hin und betrachtete die bunten Rücken der Bücher. Nach einer Weile rief er mich zum Pult, wo er Bücher aufgestapelt hatte.

      „Da wäre alles beisammen, nur das Physikbuch muss ich bestellen. Es tut mir leid, aber du musst noch einmal zu mir kommen.“ Er lächelte. „Du kannst immer zu mir kommen. Wie du siehst, es gibt eine Menge Bücher hier, die dir etwas sagen wollen. Nicht nur Mathematik und eure Technik. Die ist natürlich wichtig, aber auch die Seele braucht Nahrung.“

      Zu meiner eigenen Überraschung fragte ich: „Was ist die Seele?“

      „Hast du noch nie etwas gefühlt, gewollt und ins Herz geschlossen? Was ist mit deinen Eltern?“

      „Meine Eltern? Die sehe ich kaum. Die Nachbarin gibt mir zu essen und das reicht.“

      „Magst du die Frau?“

      „Darüber hab ich nie nachgedacht.“

      „Hast du ein Hobby?“

      „Ein Hobby“, überlegte ich, „Sie meinen, was ich mache, wenn ich keine Aufgaben zu erledigen habe? Ja da geh ich in unseren Boxklub.“

      „Die bist also Sportler?“

      „Wenn Sie meinen“, sagte ich ungeduldig und hielt ihm Geld hin.

      Er nahm es und ging zur Registrierkasse. Die war scheinbar noch immer kaputt, denn er drehte nicht an ihr, sondern zog nur die Lade heraus.

      „Ich muss dir einen Beleg schreiben. Das Ding geht nicht.“

      Er gab mir den Zettel und zwinkerte mir zu.

      „Also komm übermorgen wieder. Bis dahin ist das Buch da  und denk nach, vielleicht brauchst du ja doch noch etwas für die Seele.“

      Er lächelte, und sein weißer Schnauzbart schien es zu verstärken. Ich musste zugeben, der Mann hatte etwas Anziehendes.

      Es war eigenartig. Seine Worte über die Seele gingen mir nicht aus dem Kopf.

      Bisher bestand mein Gefühlsleben aus Schmerz, wenn ich mich anschlug, oder Hunger, wenn Essenszeit war. Wärme und Kälte fühlte ich auch.

      Das war es aber dann, obwohl  manches Mal gab es auch ein unbewusstes Sehnen, welches in der Skala meiner Befindlichkeit keinen wirklichen Stellenwert hatte, und wenn überhaupt, da wohl nutzlos, ganz zum Schluss kam. Trotzdem, es war da und drängte nun nach vorne. Was war ich eigentlich? Was trieb mich an? Was beherrschte mein Denken außerhalb der Tagesroutine?

      Herr Bobisch hatte das etwa so definiert: `Der Trieb wird zum Willen, die Wahrnehmung zur Erkenntnis. ´ Ich konnte leider nur ahnen, was er damit meinte.

      Da war dann noch etwas. Die Bilder der Nacht.

      Ich träumte doch und meist bedauerte ich dann aufwachen zu müssen.

      Ich fühlte mich oft in Träumen geborgen und akzeptiert, ganz anders als in der Wirklichkeit. War das vielleicht ein Schutz für meine Seele?

      Es schien mir auf einmal wichtig, darüber nachzudenken, und eigentlich konnte ich kaum erwarten, wieder in die Buchhandlung zu gehen. Ich wollte mehr über die Seele hören und wusste, von Herrn Bobisch würde ich einiges darüber erfahren können.

      Je besser ich ihn kennen lernte, umso mehr verachtete ich mich, weil ich ihn bestohlen hatte.

      Er war ein so freundlicher Mann und ich sah ihm an, wie ernsthaft er sich für mich interessierte. Das war eine völlig neue Erfahrung und steigerte nicht nur meine Persönlichkeit, sondern führte mein Denken auch auf den neuen Pfad der Selbstbeobachtung.

      Er erwartete mich bereits, als ich den Laden betrat, denn am Tresen lag schon mein eingepacktes Physikbuch.

      „Zuletzt haben wir ein sehr nettes Gespräch gehabt.“

      Ich nickte zustimmend.

      „Wir haben über die Seele gesprochen. Gibt es die nun, oder existiert sie nur in unserer Phantasie? Das ist schon seit Aristoteles ein Grundproblem der Philosophie.

      Für außermaterielle Wahrnehmungen haben wir keine Sensoren. Wir können sie, falls