Gerhard Grollitsch

An den Grenzen der Wirklichkeit


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und erklärte ihr den Grund für mein Erscheinen, die vergessene Arbeitsbestätigung.

      „Und deswegen kommen Sie extra her?“

      Ihre Augen begannen schalkhaft zu glitzern, wie mir schien, und bleiern lastete ihre Frage auf mir.

      Ich wollte sie nicht beantworten und gleich zum Punkt kommen, aber es gelang mir nur stotternd die Worte „das blonde Mädchen“ hervorzubringen.

      Sie nickte lässig, nahm einen Zettel und schrieb etwas auf.

      Es war eine Telefonnummer

       Erika

      „Entschuldige, wenn ich dich störe, Papa.“

      „Du störst mich nicht“, lächelte mein Vater, wie er es immer tat, wenn er mich sah.

      „Da war gestern ein Servicetechniker von der Firma Ortner bei uns. Was hast du mit dieser Firma zu tun?“

      „Die haben uns die neue elektronische Zuschneidestraße eingerichtet. Warum fragst du?“

      „Hat mich nur interessiert, weil ich gestern von dem jungen Mann fast über den Haufen gerannt worden wäre. Der hatte es aber eilig.“

      „Das glaub ich. Schließlich hatten wir eine Menge Ärger mit der Anlage. Gestern haben sie endlich einen wirklichen Fachmann geschickt und jetzt ist alles in Ordnung.“ Nachdenklich ergänzte er: „Angeblich ein Elektroniker, frisch aus der Ausbildung, aber tüchtig und kompetent, hat mir unser Werkmeister Schmiedinger berichtet.“

      Sein Blick fokussierte mich. „Ist etwas?“

      Ich schüttelte den Kopf und ging hinaus.

       Hermann

      Erika raubte mir den Schlaf.

      Ich lag im Bett und wälzte mich hin und her. Das war neu. Mit Schlafproblemen musste ich eigentlich nie zu kämpfen, aber seit ich Erika kannte, war das wohl anders.

      Immerhin, ich hatte ihre Telefonnummer. Die hütete ich wie einen Schatz, nur sie zu benutzen traute ich mich nicht und das war wohl einer der Gründe für meinen Zustand.

      Meine Gedanken schweiften ab, weit zurück in die Schulzeit des Jungen, der ich einmal war.

      Dieser Junge hatte gelernt, Entscheidungen allein zu treffen. Seine Eltern hatten keine Zeit oder wollten sich nicht mit den Problemen des Jungen befassen. An Geld gab es keinen Mangel, obwohl sie in Wien-Favoriten, einem Arbeiterbezirk, wohnten. Der Vater war Maschinenschlosser, die Mutter Köchin, so war ihr Einkommen in dieser Gegend als überdurchschnittlich anzusehen, aber persönliche Zuwendung, nein, das gab es nicht, denn sie waren ja nie da.

      Die Erziehung erhielt er von der Nachbarin im Verbund mit ihren Sprösslingen. Da ging alles in einem Aufwaschen und war nicht sehr nachhaltig. Alle Kinder waren sich meist selbst überlassen, denn bei der Ersatzmutter stellte sich der Nachwuchs mit periodischer Gleichmäßigkeit ein. Seine Wertevorstellung, sofern er damals überhaupt welche gehabt hatte, bekam er von dem Buchhändler in der Leebgasse vermittelt, der sich zu einem väterlichen Freund entwickelte und den er am meisten vermisste, seit er Wien verlassen hatte.

      Jetzt bräuchte ich ihn mehr denn je, dachte ich. Die Leebgasse mit seinem Laden wird wohl ewig in meiner Erinnerung verankert sein, sosehr ich auch alles Sonstige, was mit meiner Wiener Zeit zusammenhängt, verdränge

      Wieder schob sich in meinen Gedanken Erika vor. Morgen ruf ich sie an. Unverzüglich, befahl ich mir, und als ich diesen Entschluss gefasst hatte, überlegte ich nicht mehr, was ich ihr sagen würde. Das war mein Glück. Denn nun nahm mich endlich der Schlaf gefangen.

       Erika

      „Ja, Erika hier“, meldete ich mich.

      Ich war in Eile, denn ich hatte gleich in der Früh eine Vorlesung an der Uni.

      Mein Vater war schon aus dem Haus und ich wollte gerade gehen, als das Telefon anschlug.

      „Ich bin es … das heißt Keppler … eigentlich Hermann“, kam es stotternd aus dem Hörer.

      Ich musste lachen.

      „Jetzt haben Sie sich aber umfassend vorgestellt … und?“

      „Sie kennen mich. Es war eine stürmische Begegnung … auf der Stiege bei der Firme Kerbler … der blonde Engel…“

      „Ich erinnere mich dunkel.“ Der Hafer stach mich, die Überheblichkeit war mein.

      „Und …?“

      „Ich kann nachts nicht mehr schlafen und bin total geschlaucht. Ich muss Sie treffen.“

      „So schlimm steht es um Sie? Ja, da muss ich wohl großmütig sein.“

      „Wann?“, fragte er wie ein Ertrinkender, so hatte ich wenigstens den Eindruck, und Schande über mich, weil ich darüber erfreut war.

      „Jetzt muss ich dringend zur Uni, aber wenn Sie Zeit haben, könnten wir uns zu Mittag in der Mensa sehen.“

      „Ich werde da sein.“

      „Ab halb eins?“

      „Um halb eins“.

      2

      In höchstem Maße aufgeregt, wie eben ein Jugendlicher vor seinem ersten Date nur sein kann, zählte ich die Stunden herunter.

      Bereits um Viertel nach Zwölf betrat ich das Lokal, welches sich zu füllen begann.

      Ein kleiner Tisch, etwas abseits, fiel mir ins Auge. Da wären wir trotz des Rummels ungestört.

      Endlich trat sie ein. Nervös stand ich auf, ging ihr ein paar Schritte entgegen. Ich wies fragend zum Tisch hin. Sie nickte und schenkte mir ein Lächeln.

      Ein kleines, flüchtiges Lächeln, aber mich traf es mitten ins Herz.

      Mir, dem nüchternen Techniker, passierte so etwas?

      Wir saßen einander gegenüber und schauten uns schweigend an.

      „Wollen wir etwas essen?“, unterbrach ich die Spannung, die zwischen uns entstanden war.

      „Ja, eine Kleinigkeit“, meinte sie, „die müssen wir uns an der Theke holen.“

      „Was möchten Sie denn?“

      „Nur einen Salat und ein Mineralwasser.“

      Ich eilte zur Theke und stellte mich an. Für mich nahm ich nur ein Schinkenbrot und ein kleines Bier, denn ich wollte mich auf sie konzentrieren und nicht aufs Essen.

      Während sie in ihrem Salatteller stocherte, stellte ich fest: „Sie sind also Studentin. Was studieren Sie hier?“

      „BWL, bin aber erst am Anfang.“ Sie blickte auf. Eine Locke fiel ihr in die Stirn. Sie war so reizend, dass ich sie am liebsten an mich gezogen hätte, aber es war ja der Tisch dazwischen.

      „Da wir uns hier auf studentischem Boden befinden, wollen wir doch das `Sie´ weglassen, ja?“, schlug sie vor.

      „Aber gern.“

      Ihr Angebot hob meine Stimmung und ließ mich forscher werden.

      „Ich hätte nicht gedacht, dass ich so rasch eine so hübsche Kärntnerin kennen lernen würde. Das Schicksal ist mir wohl sehr gewogen.“

      Sie errötete. „Bist du nicht von hier?“

      „Merkt man das nicht? Ich bin geborener Wiener, aber wirklich glücklich hier zu sein.“

      „Was hat dich nach Klagenfurt verschlagen?“

      „Nach der HTL habe ich hier einen Job gefunden, aber reden wir über dich.“

      „Was soll ich sagen? Ich bin hier geboren, hier in die Schule gegangen und studiere hier.“

      „Und