Gerhard Grollitsch

An den Grenzen der Wirklichkeit


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kann doch nicht tanzen. Da blamier ich mich.“

      „In der Disko? Da kannst du dich nicht blamieren. Schau, wie es die anderen machen, dann geht das schon.“

      Trotzdem war mir nicht wohl, als ich zum Telefon griff.

      Ihre helle Stimme wischte meine Bedenken weg.

      „In eine Disko willst du mit mir gehen? Ja, warum nicht? Ich habe davon gehört, dass bei uns eine große Disko eröffnet wurde. Interessiert mich dort einmal hinzukommen. Wann?“

      „Ist dir Samstag recht?“

      „Um zwanzig Uhr am `Neuen Platz´ vor dem Rathaus. Ich freu mich.“

      Scheinbar hatte sie es eilig, aber mich hatte sie damit auch in Schwung gebracht.

       Erika

      Was zieht ein Mädchen an, wenn es in eine Disko eingeladen wird? Diese Überlegung machte mir ungewohnt lange zu schaffen, aber ich fühlte intensiv das damit verbundene, aufregende Prickeln.

      Er war schon da, als ich am `Neuen Platz´ ankam.

      „Ich muss dir gestehen, ich war noch nie in einer Disko, und tanzen kann ich auch nicht.“ Verlegen drückte er mir die Hand.

      „Mach dir nichts draus, ich auch nicht, und was das Tanzen angeht, das kriegen wir schon hin“, lachte ich ihn an, und eingehängt schritten wir frohgemut der Gegend zu, wo sich angeblich die Disko befand.

      Es fühlte sich sehr gut an, so neben dem großen Mann, von ihm quasi geführt, einherzuschreiten, und meinetwegen hätte es unendlich lange dauern können.

      Es dauerte lange genug und nach einigem Fragen fanden wir das Lokal. Allerdings würde ich Hermann den langen Fußweg nicht zugemutet haben, hätte ich gewusst, wo sich die Disko wirklich befand. Aber es war ein schon recht milder, zunehmend mondheller Abend, und ich habe den Fußweg genossen.

      Das Lokal war in Vollbetrieb. Davor krachten infernalisch die Mopeds der jugendlichen Besucher. Eintretend, empfingen uns ein das Trommelfell zerstörender Rhythmus und eine Menschenmenge, in der wir ein weiter-geschobener Teil der Masse wurden. Ein Ruheplatz  von einer Sitzgelegenheit konnte nicht die Rede sein war momentan nicht zu finden und so begannen wir uns auf der Tanzfläche der brodelnden Menge anzugleichen. Wir hielten uns an den Händen, wurden losgerissen und verloren uns, waren von Freude durchglüht, wenn wir uns wieder fanden, und mit der Zeit wurde daraus ein lustiges Spiel  sich verlieren und wiederfinden.

      Der Durst zwang uns schließlich an einen Tisch, an den wir uns quetschen konnten, nur um wenigstens einen Abstellplatz für ein mühsam ergattertes Getränk zu finden.

      Ich war von mir begeistert, dass ich da so einfach mitmachte. Gedränge war eigentlich nicht mein Ding, aber es war so schön, immer wieder an Hermann gedrückt zu werden, und ob er es wollte oder nicht, er musste mich beschützend in den Arm nehmen.

      Rasend verging die Zeit und irgendwann standen wir auf der Straße.

      Ich atmete die Nachtluft genießerisch ein, als ich aus dem Schatten des Gebäudes ein lautes Schreien vernahm. Offensichtlich bedrängten zwei Jugendliche ein Mädchen.

      Hermann eilte ihr zu Hilfe und riss einen der Knaben von ihr weg. Zitternd drückte sie sich an die Mauer, während der Junge sich drohend Hermann zuwendete.

      Plötzlich blitzte ein Messer in seinen Händen und schoss auf Hermann zu. Mir raste das Herz und mein Aufschrei blieb mir im Hals stecken. Es ging alles blitzschnell.

      Mein Freund war ein Kämpfer. Sein Arm wehrte das Messer gekonnt ab und es flog in weitem Bogen weg, während sein Gegner, von einem Haken getroffen, aufstöhnend zu Boden ging. Auch der zweite Junge, der sich nun einmischen wollte, wusste gar nicht, wie ihm geschah, als ihn Hermanns Fußspitze empfindlich traf und außer Gefecht setzte.

      Es schien mir wie im Film.

      Plötzlich war die Szene leer, nur das Mädchen stand noch immer zitternd an die Mauer gedrückt. Die Jungen hatten sich so schnell es ging, aufgerappelt und eiligst die Flucht ergriffen.

      „Alles in Ordnung?“, fragte mein Held das Mädchen.

      Sie nickte.

      Hermann wandte sich lächelnd zu mir, legte seinen Arm um mich und ging mit mir, so als wäre nichts geschehen, weiter hinein in die silbrig glänzende Nacht.

      3

      Hermann

      Dieser Abend hatte mich aufgewühlt.

      Mit einem Mal war ich Erika so nah wie noch nie. Diese Freude, mit ihr beisammen sein zu können, diese Übereinstimmung unserer Denkweise und diese Ausgelassenheit, die uns erfasst hatte.

      Jetzt ahnte ich, wie Liebe ist, und jetzt wusste ich, dass ich sie unendlich liebte. Ich scheute mich darüber nachzudenken wie sie sich fühlte, denn ich war schon glücklich, wenn ich mir einbildete, dass es bei ihr ähnlich sei.

      Warum hätte sie sich sonst an mich gedrängt, mich berührt und angelächelt?

      Vor lauter Glücksgefühl fand ich wieder einmal keinen Schlaf.

      Meine Gedanken schweiften ab, zu diesem Kampf, und mir war das unangenehm.

      Was wird sie wohl nach diesem Intermezzo von mir halten?, dachte ich.

      Aber ich konnte nun einmal Gewalt gegen Schwächere nicht ertragen.

      Der Kampf selbst war nebensächlich. Ich hatte als Junge viel gekämpft, zu viel, wie ich heute wusste. Deshalb verdrängte ich diese Zeit, konnte mich mit ihr nicht identifizieren und wenn ich daran denken musste, dann unbeteiligt, wie ein Beobachter, der, persönlich über den Dingen stehend, nur zusieht. Das damals war nicht ich gewesen, und daran zu denken, gelang mir nur in der dritten Person, davon zu sprechen war mir unmöglich.

      Ja, der kleine Junge aus der Leebgasse 39 hatte eben früh lernen müssen sich zu wehren. In diesem Umfeld wuchs er auf, in das er hineingeworfen worden war, einem Umfeld aus Neid, Gier, Hass und Niedertracht, wo nur der Stärkere sich behaupten konnte, nur der galt, wer in der Lage war, sich und seine Habseligkeiten zu verteidigen.

      Auch unter den Freunden, jenen Kindern, mit denen er leben musste, den Kindern der Nachbarin, gehörte Auseinandersetzung wie selbstverständlich dazu.

      Kurti, im gleichen Alter, wurde sein bevorzugter Spielkamerad. Da gab es dann schon die ersten Streitigkeiten. Hermann bekam von seinen Eltern eine ganze Menge mehr oder weniger geliebtes Spielzeug. Das aber war für Kurti ein unerreichbarer Schatz. Von seinen Eltern hatte der kaum jemals etwas geschenkt erhalten. Deshalb ließ ihn Hermann auch mit seinen Spielsachen spielen, und manches schenkte er ihm.

      Wenn es aber um das ferngesteuerte Auto ging, kannte er kein Pardon. Dieses hütete er wie seinen Augapfel, und oft wurde darum gerauft, denn Kurti wünschte sich auch nichts sehnlicher als dieses Auto.

      Später dehnten sie ihre Spiele auf die weitere Umgebung, die Straßen, Plätze, Höfe und Parks aus. Da waren Kämpfe mit anderen unvermeidlich. Die beiden schweißte das allerdings zusammen, und sie lernten die Erfahrung kennen, dass man gemeinsam stärker ist.

      Ihr Heimatbezirk Favoriten ist Arbeiter- und Fabriksviertel. Seine Hauptblüte erlebte dieser Stadtteil in der Gründerzeit, um die Wende in das zwanzigste Jahrhundert. Dies, sowie die Bombennächte des vergangenen Krieges ließen Ruinen und leere Hallen entstehen, die spannender Spielplatz, aber auch Kulisse von Bandenbildung war.

      In der Hauptschule wurden sie zu den wichtigsten Objekten für die beiden.

      Jede Gruppierung hatte einen Ruf und wollte ihn nicht nur verteidigen, sondern auch ausweiten. Das führte zu Kämpfen, Terror und Unterdrückung der Schwächeren. Diese waren daher gezwungen sich unter einen Schutz zu begeben.

      Schorschis Bande hatte unter den Jugendlichen einen legendären Ruf. Ihr anzugehören war eine Auszeichnung und bot absolute