Gerhard Grollitsch

An den Grenzen der Wirklichkeit


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betrifft auch die Religionen, über deren absolute Wahrheitsansprüche sogar Kriege geführt und viel Blut vergossen wurden. Diese Auseinandersetzungen waren aber völlig sinnlos, denn diese Frage lässt sich mit den uns gegebenen Sinnesorganen ja überhaupt nicht beantworten.

      Trotzdem sind Religionen aber ein wichtiger kultureller Faktor und ein Wertemaßstab.

      Doch zurück zur Seele. Die Philosophen haben im Laufe der Zeit nach meinem Wissen dreizehn Theorien entwickelt, angefangen beim `Dualismus´ der Unsterblichkeit der Seele und der Sterblichkeit des Körpers bis zur völligen Negierung ihres Vorhandenseins in der `Theorie der letzten Wirkung´. Letztere geht davon aus, dass unser Bewusstsein nur getragen wird von neuroelektrischen Signalen im Gehirn.

      Ich glaube, um eine einigermaßen haltbare Meinung zu gewinnen, muss abstrahiert werden. Alle im Zusammenhang mit physischen Funktionen stehenden Phänomene müssen weggedacht werden, um zu sehen, was übrig bleibt. Also reine Gehirnbefehle an die Mechanik des Körpers, Gefühle, die Körperbedürfnisse hervorrufen, Reaktionen auf Außeneinflüsse und abgespeicherte erlebnisrelevante Vorgänge im Gehirn.

      Bleibt dann noch etwas? Ich sage ja.

      Dieses ´Ich´, welches in seiner unendlichen Vielfalt Generation um Generation, unter dem Einfluss des Erlebens, natürlich der genetischen Basis und dem individuellen Wollen, entsteht, geschmiedet im Feuer des Existenzkampfes, soll mit der Materie, die es ja auch nicht tut, einfach verlöschen?

      Materie wird umgewandelt und Geist soll spurlos verschwinden? An Energie geht nichts verloren, behaupten die Physiker. Wenn das stimmt, muss auch die Seelenenergie, deren Größe uneinschätzbar ist, in irgendeiner Form erhalten bleiben, weil ja auch geformt, in und durch unsere real existierende Welt.“

      Fasziniert folgte ich seinen Ausführungen.

      Vieles war mir nicht klar, aber ich würde allen Ehrgeiz daran verwenden, immer mehr davon zu verstehen.

      „Über diese Dinge habe ich noch nie nachgedacht“, bekannte ich fasziniert. „Sie haben mir eine neue Welt gezeigt. Dafür danke ich Ihnen, und ich bitte Sie, dass ich Sie wieder besuchen darf. Ich möchte noch mehr erfahren und Ihnen Fragen stellen dürfen.“

      Ich wunderte mich über die Worte, die da aus meinem Mund sprudelten. Das war doch so gar nicht meine Denkweise, aber ich fühlte mich eigenartig bereichert.

      Seit diesem Gespräch ging mein Blick nicht nur nach außen.

      5

      Erika

      Normalerweise war ich keine Träumerin. So viele Wachträume wie jetzt hatte ich noch nie gehabt. Alle drehten sich um Hermann.

      So gerne hätte ich mich jemandem mitgeteilt. Mit Flora konnte ich über manches sprechen, aber das was mir wirklich so am Herzen lag, war unaussprechlich.

      Meine Mutter ging mir ab, wie nie zuvor. Ihr hätte ich wohl alles sagen können.

      Die Gedanken schweiften zurück in meine Kindheit.

      Aus der Babyzeit erschienen Bilder wie Momentaufnahmen, altvertraute Sinneseindrücke und Befindlichkeiten, die meist durch Gerüche hervorgerufen werden, kehrten zurück. Das Parfüm meiner Mama, das mich anwehte, oder Vaters herbes Rasierwasser.

      Verklärt erschien mir das Bild meiner Mutter. Sie war nicht nur einfach da, wie ein Engel umschwebte sie mein Dasein. Für mich war sie die schönste Frau, die ich je gesehen hatte und die Bilder, die ich öfter betrachtete, bestätigten das.

      Nicht der geringste Streit war mir im Gedächtnis geblieben, auch nicht aus der Zeit, als ich in die Schule kam und Leistung gefordert wurde. Diese Erinnerungen verblassten aber zunehmend und wurden verdrängt, von dem einschneidensten Ereignis meines Lebens, den letzten Stunden mit ihr.

      Es war in den ersten Ferientagen gewesen. Ich nutzte die Gelegenheit und schlief länger.

      Als ich ins Badezimmer kam, empfing mich eine warme, feuchte, leicht von ihrem Parfum erfüllte Atmosphäre. Sie stand am Spiegel und frisierte ihr langes Haar. Zwischendurch trocknete sie mit dem Föhn.

      Ich setzte mich auf die Kante der Badewanne und beobachtete sie.

      Sie schaute zurück und warf mir ein kleines Lächeln zu.

      „Wie fühlst du dich in den Ferien? Ich habe eine Überraschung für dich. Es soll unvergesslich für dich werden.“

      „Sag’s mir“, bettelte ich.

      „Noch nicht. Es wäre ja sonst keine Überraschung.“

      Meine Morgenträgheit war wie weggewischt.

      „Was könntest du mir schenken? Eigentlich hab ich alles und Weihnachten ist ja noch weit.“

      „Es ist auch nicht direkt etwas Materielles, obwohl …“

      „Du machst es aber spannend.“

      „Wird es auch werden“, verkündete sie, „ich freu mich selbst sehr darauf.“

      „Dann ist es etwas für uns beide?“

      Sie nickte lächelnd.

      „Und Papa, hat der auch einen Anteil?“

      „Das weiß ich noch nicht.“ Sie drehte sich um und strahlte mich an.„Ich muss es ihm erst vorschlagen. Vielleicht kann er mitmachen. Das wäre am Allerschönsten.“

      Ihre Augen bekamen einen so sehnsüchtigen Glanz, wie ich ihn an ihr noch nie gesehen hatte. Nun verstand ich meinen Vater, dass er sie über die Maßen liebte und ihr jeden Wunsch erfüllen wollte. Ich stand auf und schmiegte mich glücklich in ihre Arme.

      Es war der 17. Juli 2010., ein Datum, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat.

      Jetzt höre ich noch ihre Stimme, die mir, als sie an meinem Zimmer vorbeiging, zurief: „Ich muss noch schnell auf die Bank. Es wird nicht lange dauern.“

      Für mich wurde es zur Ewigkeit. Sie kam nicht mehr zurück.

      Mein Vater gestatte es mir nicht, sie nochmals zu sehen.

      Der Sarg stand verschlossen unter einem Meer von Blumen, gekrönt durch ein Bild zur Erinnerung an Sabine Kerbler, geborene Ruthnig.

      Ich verstand nicht, warum ich nicht noch einmal von ihr Abschied nehmen durfte.

      „Du sollst sie so in Erinnerung behalten, wie du sie zuletzt gesehen hast“, versuchte mich Papa zu trösten.

      Dabei brauchte er doch selbst Trost.

      Ich hatte meinen Vater noch nie weinen gesehen, und es zerriss mir das Herz, als ich sah, wie ihm Tränen von den Wangen tropften.

      Laut aufschluchzend bekam ich kaum Luft und es dauerte eine ganze Weile, bis sich mein Atem beruhigt hatte.

      Meine Mutter war, als sie den Kassenraum der Bank betrat, direkt einem bewaffneten Bankräuber in die Arme gelaufen. Sie war mit ihm zusammengeprallt und hatte sich, wahrscheinlich um nicht zu stürzen, an den Tragriemen der Tasche festgehalten, in der das erbeutete Geld steckte. Die auf sie gerichtete Pistole hatte meiner Mutter offenbar einen Schock versetzt, denn als der Bankräuber sie wegstoßen wollte, ließ sie nicht los. Da gab er einen Schuss ab und flüchtete auf die Straße.

      Er hatte ihr in den Kopf geschossen. Meine Mutter war sofort tot. Sie war nicht mehr dazu gekommen, Geld abzuheben, das Geld für ihre Überraschung, unsere gemeinsame Ferienreise nach Spanien.

      Was mir verloren gegangen war, wurde mir erst viel später wirklich bewusst, und immer kam ein unendlicher Schmerz in mir auf, wenn ich nach ihr suchte, weil ich die Mutter brauchte, und das war, besonders im Stadium der Pubertät, sehr häufig der Fall.

      Mein Vater spielte in meinem Leben schon immer die große Rolle. Er war mir als Kind Leitbild und in der Jugendzeit Mutterersatz und Freund. Wie von