Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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so hätte ich gar keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert erbrechen, meine Herren, oder nicht?« rief er mit seinem seltsamen Lachen und mit blitzenden Augen. »Ein Geheimnis, ein Geheimnis! Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein wird‹? Das sagt der starke, mächtige Engel in der Offenbarung des Johannes.«

      »Es ist das beste, daß die Vorlesung unterbleibt!« rief auf einmal Jewgeni Pawlowitsch; aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien.

      »Lesen Sie nicht!« rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert.

      »Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe«, bemerkte jemand.

      »Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?« erkundigte sich ein anderer.

      »Vielleicht ist es langweilig«, fügte ein dritter hinzu.

      »Aber was ist es denn eigentlich?« fragten die übrigen.

      Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein.

      »Also ... soll ich es nicht vorlesen?« flüsterte er ihm zaghaft zu, und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. »Ich soll es nicht vorlesen?« murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ und wieder wie vorher alle zusammenfaßte. »Fürchten Sie sich?« sagte er, wieder zu dem Fürsten gewendet.

      »Wovor sollte ich mich fürchten?« fragte dieser, dessen Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte.

      »Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?« rief Ippolit und sprang von seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Oder irgendeine andere Münze?«

      »Hier!« sagte Lebedjew, ihm schnell eine Münze hinreichend.

      Es huschte ihm der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei.

      »Wjera Lukjanowna!« rief Ippolit eilig. »Bitte, nehmen Sie die Münze, und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der Adler kommt, will ich es vorlesen!«

      Wjera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf ihren Vater an; dann den Kopf nach oben zurückbiegend, als meine sie, sie dürfe nun selbst die Münze nicht mehr ansehen, warf sie sie mit einer ungeschickten Bewegung auf den Tisch. Der Adler kam nach oben zu liegen.

      »Also werde ich es vorlesen!« flüsterte Ippolit, als wäre er durch die vom Schicksal getroffene Entscheidung niedergeschmettert; er hätte nicht blasser werden können, wenn man ihm sein Todesurteil vorgelesen hätte. Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, zuckte er plötzlich zusammen und sagte: »Was war das übrigens? Habe ich wirklich soeben das Los befragt?« Er musterte alle ringsumher mit der gleichen zudringlichen Offenherzigkeit wie vorher. »Aber das ist ja ein wunderbarer psychologischer Zug!« rief er, sich an den Fürsten wendend, plötzlich in aufrichtigem Staunen. »Das ... das ist ein unbegreiflicher Zug, Fürst!« wiederholte er; er wurde lebhafter und schien seine Gedanken zu sammeln. »Notieren Sie sich das, Fürst; merken Sie es sich; Sie sammeln ja wohl Material betreffend die Empfindungen vor der Hinrichtung ... Ich habe mir das sagen lassen, haha! O Gott, was für ein sinnloses, abgeschmacktes Benehmen!« Er setzte sich auf das Sofa, stützte die beiden Ellbogen auf den Tisch und faßte sich an den Kopf. »Da muß man sich ja geradezu schämen ...! Aber was schert mich das, daß man sich schämen muß!« rief er, den Kopf sogleich wieder in die Höhe hebend. »Meine Herren, meine Herren! Ich öffne das Kuvert!« verkündete er mit plötzlicher Entschlossenheit. »Übrigens ... ich zwinge niemand zuzuhören ...!«

      Mit vor Aufregung zitternden Händen erbrach er das Kuvert, nahm mehrere mit kleiner Schrift bedeckte Bogen Briefpapier heraus, legte sie vor sich hin und strich sie glatt.

      »Was ist denn das? Was ist denn da los? Was wird er vorlesen?« murmelten manche verdrießlich; andere schwiegen. Aber alle setzten sich hin und machten neugierige Gesichter. Vielleicht erwarteten sie wirklich etwas Ungewöhnliches. Wjera klammerte sich an den Stuhl ihres Vaters und weinte beinah vor Angst; fast in gleicher Angst befand sich Kolja. Lebedjew, der sich bereits hingesetzt hatte, erhob sich wieder halb, ergriff die Kerzen und zog sie näher an Ippolit heran, damit dieser mehr Licht beim Vorlesen habe.

      »Meine Herren, was das hier ist, werden Sie sofort sehen«, schickte Ippolit zu irgendwelchem Zweck voraus und begann dann seine Vorlesung: »Eine notwendige Erklärung! Motto: Après moi le déluge ... Pfui! Hol's der Teufel!« rief er, als ob er sich verbrannt hätte. »Habe ich wirklich im Ernst ein solch dummes Motto hinsetzen können ...? Hören Sie, meine Herren ...! Ich versichere Ihnen, daß dies alles am Ende vielleicht schrecklich dummes Zeug ist! Es sind nur ein paar Gedanken von mir ... Wenn Sie glauben, daß das hier irgend etwas Geheimnisvolles oder ... Verbotenes ist ... mit einem Wort ...«

      »Lesen Sie doch ohne weitere Vorreden!« unterbrach ihn Ganja.

      »Er kneift!« fügte jemand hinzu.

      »Viel unnützes Gerede!« mischte sich Rogoschin hinein, der bisher die ganze Zeit über geschwiegen hatte.

      Ippolit blickte schnell nach ihm hin, und als ihre Augen sich trafen, lächelte Rogoschin bitter und grimmig und sprach langsam die seltsamen Worte:

      »Diese Sache muß man anders zu Ende bringen, Junge, ganz anders ...«

      Was Rogoschin damit sagen wollte, verstand natürlich niemand; aber seine Worte machten auf alle einen recht sonderbaren Eindruck: ein und derselbe Gedanke ging einem jeden durch den Kopf. Auf Ippolit übten diese Worte eine furchtbare Wirkung aus: er begann so zu zittern, daß der Fürst schon die Hand ausstrecken wollte, um ihn zu stützen, und er hätte gewiß aufgeschrien, wenn ihm nicht offenbar plötzlich die Stimme versagt hätte.

      Eine ganze Minute lang war er nicht imstande, ein Wort herauszubringen, und blickte, schwer atmend, fortwährend Rogoschin an. Endlich sagte er keuchend und mit gewaltsamer Anstrengung:

      »Also Sie ... Sie waren es ... Sie?«

      »Was soll ich gewesen sein? Ich?« antwortete Rogoschin verständnislos.

      Aber Ippolit fuhr, von plötzlicher Wut gepackt, auf und schrie mit scharfer, starker Stimme:

      »Sie waren in der vorigen Woche bei mir, bei Nacht, um ein Uhr, an dem Tag, an dem ich morgens zu Ihnen gekommen war, Sie!! Gestehen Sie es ein, daß Sie es waren?«

      »In der vorigen Woche, bei Nacht? Hast du den Verstand verloren? Bist du geradezu verrückt geworden, Junge?«

      Der »Junge« schwieg wieder ungefähr eine Minute lang, indem er den Zeigefinger an die Stirn hielt und nachdachte; aber in seinem bleichen, immer noch von Furcht verzerrten Lächeln schimmerte plötzlich ein schlauer, ja triumphierender Ausdruck auf.

      »Das waren Sie!« wiederholte er endlich flüsternd, aber im Ton festester Überzeugung. »Sie sind zu mir gekommen und haben schweigend bei mir auf dem Stuhl am Fenster gesessen, eine volle Stunde lang; länger; zwischen zwölf und zwei Uhr nachts; dann sind Sie nach zwei Uhr aufgestanden und weggegangen ... Das waren Sie, Sie! Warum Sie mich so geängstigt haben, warum Sie gekommen sind, um mich zu quälen, das verstehe ich nicht; aber das waren Sie!«

      Und obwohl aus seinem Blick der Ausdruck zitternder Angst noch nicht geschwunden war, blitzte doch in ihm plötzlich ein grenzenloser Haß auf.

      »Sie werden das alles sogleich erfahren, meine Herren; ich ... ich ... hören Sie nur zu ...«

      Er griff wieder in schrecklicher Hast nach seinen Blättern; sie hatten sich verschoben und waren auseinandergeglitten; er bemühte sich, sie zusammenzulegen; sie zitterten in seinen bebenden Händen; es dauerte lange, bis er damit zurechtkam.

      »Er ist verrückt geworden, oder er redet im Fieber!« murmelte Rogoschin kaum hörbar.

      Endlich begann die Vorlesung. Anfangs, etwa fünf Minuten lang, wurde es