Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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ist ein heimtückischer, spöttischer, aufstachelnder Gedanke!« erwiderte Lebedjew eifrig auf Jewgeni Pawlowitschs paradoxe Behauptung. »Ein Gedanke, den Sie nur mit der Absicht ausgesprochen haben, die Gegner zum Kampf aufzuhetzen – aber ein richtiger Gedanke! Denn Sie als weltlich gesinnter Spötter und Kavallerist (wiewohl Sie nicht ohne Fähigkeiten sind) wissen selbst nicht, ein wie tiefsinniger, wahrer Gedanke Ihr Gedanke ist! Jawohl! Das Gesetz der Selbstzerstörung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Wie Gott, so beherrscht in gleicher Weise der Teufel die Menschheit bis zu einem uns noch unbekannten Zeitpunkt. Sie lachen? Sie glauben nicht an den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke, ein leichtfertiger Gedanke. Wissen Sie, wer der Teufel ist? Kennen Sie seinen Namen? Und obgleich Sie nicht einmal seinen Namen kennen, lachen Sie wie Voltaire über seine Gestalt, über seine Hufe, seinen Schwanz und seine Hörner, die Sie doch selbst erfunden haben; denn der böse Geist ist ein großer, furchtbarer Geist und hat keine Hufe und Hörner, die Sie ihm andichten. Aber darum handelt es sich jetzt nicht.«

      »Woher wissen Sie, daß es sich jetzt nicht um ihn handelt?« rief Ippolit plötzlich und lachte wie in einem krampfhaften Anfall.

      »Das ist ein geschickter Gedanke, der eine feine Andeutung enthält!« lobte Lebedjew. »Aber dennoch handelt es sich nicht darum, sondern wir beschäftigen uns mit der Frage, ob nicht ›die Quellen des Lebens‹ abnehmen infolge des Wachstums ...«

      »Der Eisenbahnen?!« rief Kolja.

      »Nicht der Eisenbahnverbindungen, Sie junger Hitzkopf, sondern jener ganzen Richtung, für die die Eisenbahnen sozusagen als Illustration, als künstlerischer Ausdruck dienen können. Man eilt und lärmt und pocht und hastet, wie man sagt, um die Menschheit glücklich zu machen! ›Es wird gar zu geräuschvoll und industriös in der Menschheit; es gibt zu wenig geistige Ruhe‹, klagt ein Denker, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat. ›Das mag sein; aber das Rasseln der Lastwagen, die der hungrigen Menschheit Brot zuführen, ist vielleicht noch besser als die geistige Ruhe‹, erwidert ihm siegesgewiß ein anderer Denker, einer der überall geschäftig umherreist, und geht eitel und selbstgefällig von ihm weg. Aber ich, der schändliche Lebedjew, glaube nicht an die Lastwagen, die der Menschheit Brot zuführen! Denn die Lastwagen, die der ganzen Menschheit Brot zuführen sollen, können, wenn es ihnen an einer sittlichen Grundlage für ihr Handeln fehlt, auch ganz kaltblütig einen beträchtlichen Teil der Menschheit von dem Genuß des zugeführten Brotes ausschließen, was auch schon dagewesen ist ...«

      »Die Lastwagen können ganz kaltblütig ausschließen?« fragte jemand.

      »Was auch schon dagewesen ist«, wiederholte Lebedjew, ohne die Frage irgendwelcher Beachtung zu würdigen. »Es hat schon einen Menschenfreund wie Malthus gegeben. Aber ein Menschenfreund mit schwankender sittlicher Grundlage wird zu einem Menschenfresser, gar nicht zu reden von seiner Eitelkeit: denn man verletze die Eitelkeit irgendeines dieser zahllosen Menschenfreunde, und er wird sofort bereit sein, aus kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden – übrigens, um gerechterweise die Wahrheit zu sagen, genau so wie jeder von uns und wie auch ich, der Schändlichste von allen; denn ich würde vielleicht der erste sein, der Holz dazuträgt und selbst davonläuft. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!«

      »Aber um was handelt es sich denn schließlich?«

      »Langweiliges Gerede!«

      »Es handelt sich um das folgende Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten; denn ich sehe mich genötigt, ein Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten zu erzählen. In unserer Zeit wird in unserem Vaterland, das Sie, meine Herren, wie ich hoffe, ebenso lieben, wie ich es tue (denn ich meinerseits bin bereit, sogar all mein Blut für dasselbe zu vergießen) ...«

      »Weiter! Weiter!«

      »In unserem Vaterland wird, ebenso wie im übrigen Europa, die Menschheit von allgemeinen, weite Landstrecken umfassenden Hungersnöten heimgesucht, und zwar, soweit sich das berechnen läßt und ich mich erinnern kann, jetzt nicht häufiger als einmal im Vierteljahrhundert, mit andern Worten einmal alle fünfundzwanzig Jahre. Über die genaue Ziffer will ich mich in keinen Streit einlassen; aber es kommt vergleichsweise selten vor.«

      »Im Vergleich womit?«

      »Im Vergleich mit dem zwölften Jahrhundert und den vorhergehenden und nachfolgenden. Denn damals suchten, wie die Schriftsteller berichten und versichern, allgemeine Hungersnöte die Menschheit alle zwei Jahre oder wenigstens alle drei Jahre einmal heim, so daß bei einer solchen Lage der Dinge die Menschen sogar zum Kannibalismus ihre Zuflucht nahmen, wenn auch nur im geheimen. Einer dieser Übeltäter erklärte, als er zu höherem Alter gelangt war, aus freien Stücken und ohne jeden Zwang, er habe im Laufe seines langen, ärmlichen Lebens persönlich in aller Heimlichkeit sechzig Mönche umgebracht und aufgegessen, dazu noch einige Laienkinder, vielleicht sechs Stück, aber nicht mehr, das heißt außerordentlich wenige im Vergleich zu der Zahl der von ihm verzehrten Geistlichen. An erwachsene Laien hatte er, wie sich herausstellte, sich nie zu diesem Zweck herangemacht.«

      »Das ist unmöglich!« rief der den Vorsitz führende General selbst, in einem Ton, als ob er sich persönlich beleidigt fühlte. »Ich diskutiere und debattiere häufig mit ihm, meine Herren, und immer über ähnliche Themata; aber meistens bringt er so absurdes, unglaubliches Zeug vor, daß einem ordentlich die Ohren davon weh tun!«

      »General! Denke an die Belagerung von Kars, und Sie, meine Herren, mögen wissen, daß mein Geschichtchen die reine Wahrheit ist. Meinerseits bemerke ich, daß fast jedes tatsächliche Ereignis, wenn es auch auf unabänderlichen Gesetzen beruht, doch etwas Unwahrscheinliches an sich hat. Und je tatsächlicher es ist, um so unwahrscheinlicher kommt es einem manchmal vor.«

      »Aber ist es denn möglich, sechzig Mönche aufzuessen?« rief man ringsum unter Lachen.

      »Er hat sie ja doch offenbar nicht auf einmal gegessen, sondern vielleicht im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Jahren, und dann erscheint die Sache schon ganz verständlich und natürlich ...«

      »Und natürlich?«

      »Und natürlich!« wiederholte Lebedjew bissig mit pedantischer Hartnäckigkeit. »Überdies ist ein katholischer Mönch schon von Natur zutraulich und neugierig und läßt sich leicht in den Wald oder an sonst einen einsamen Ort locken, wo man dann in der geschilderten Weise mit ihm verfährt – aber trotzdem will ich nicht bestreiten, daß die Anzahl der aufgegessenen Personen sehr groß erscheint und sogar auf Unmäßigkeit hinweist.«

      »Vielleicht ist die Geschichte doch wahr, meine Herren«, bemerkte auf einmal der Fürst. Bisher hatte er den Streitenden stillschweigend zugehört und sich nicht in das Gespräch gemischt; oft hatte er bei den allgemeinen Ausbrüchen von Heiterkeit herzlich mitgelacht. Man konnte ihm anmerken, daß er sich sehr darüber freute, daß es so lustig und lärmend herging, und auch darüber, daß sie soviel tranken. Vielleicht hätte er den ganzen Abend über kein Wort gesagt; aber es kam ihn auf einmal die Lust an zu reden. Und zwar redete er mit großem Ernst, so daß alle sich auf einmal neugierig zu ihm wandten.

      »Ich möchte speziell darüber ein Wort sagen, meine Herren, daß damals so häufig Hungersnöte vorkamen. Davon habe auch ich gehört, obwohl ich in der Weltgeschichte nur schlecht bewandert bin. Aber es scheint, daß es gar nicht anders sein konnte. Als ich in die Schweizer Berge verschlagen war, staunte ich sehr über die Ruinen der alten Ritterburgen, die an den Bergabhängen auf steilen Felsen gebaut sind, in einer vertikalen Höhe von mindestens einer halben Werst (das bedeutet einen mehrere Werst langen Aufstieg auf den hinaufführenden Pfaden). Es ist ja bekannt, was eine solche Burg ist: ein ganzer Berg von Steinen. Eine furchtbare, unglaubliche Arbeit! Und all diese Burgen mußten die armen Menschen, die Vasallen, bauen. Außerdem mußten sie allerlei Abgaben zahlen und die Geistlichkeit unterhalten. Wie sollten sie da die Erde bearbeiten und sich ernähren! Es waren ihrer damals nur wenige; wahrscheinlich starben sie in Menge Hungers, und es war wohl buchstäblich nichts zu essen da. Ich dachte manchmal sogar: wie ist es nur zugegangen, daß diesem Volk damals nicht etwas ganz Schreckliches widerfuhr, daß es nicht ganz von der Erde verschwand, sondern weiter bestand und das alles ertrug? Daß es Menschenfresser