Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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meint gewiß, daß man im zwölften Jahrhundert nur Mönche essen konnte, weil nur die Mönche damals fett waren«, bemerkte Gawrila Ardalionowitsch.

      »Ein ganz prächtiger, sehr richtiger Gedanke!« rief Lebedjew. »Denn Laien hatte er überhaupt nicht angerührt. Nicht einen einzigen Laien auf sechzig Geistliche; das ist ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke von Wort für die Weltgeschichte und für die Statistik; aus solchen Tatsachen baut ein einsichtiger Mann die Weltgeschichte auf; denn es folgt daraus mit zahlenmäßiger Genauigkeit, daß die Geistlichkeit mindestens sechzigmal so glücklich und frei lebte wie die ganze übrige damalige Menschheit. Und vielleicht war sie mindestens sechzigmal so fett wie die ganze übrige Menschheit ...«

      »Übertreibung, Übertreibung, Lebedjew!« rief man um ihn her lachend.

      »Auch ich bin der Ansicht, daß dieser Gedanke von Wert für die Weltgeschichte ist; aber was wollen Sie daraus für einen Schluß ziehen?« fragte der Fürst. (Er sprach mit solchem Ernst und so ohne jede Beimischung von Scherz und Spott über Lebedjew, über den alle lachten, daß sein Ton inmitten des allgemeinen Tones der ganzen Gesellschaft unwillkürlich komisch wurde; es fehlte nicht viel, so hätten sie angefangen auch über ihn zu lachen; aber er bemerkte das nicht.)

      »Sehen Sie denn nicht, Fürst, daß der Mensch verrückt ist?« sagte Jewgeni Pawlowitsch, sich zu ihm hinunterbeugend. »Es wurde mir vorhin hier gesagt, er habe die fixe Idee, Advokat zu werden und Verteidigungsreden zu halten, und wolle zu diesem Zweck ein Examen ablegen. Ich erwarte, daß er uns jetzt eine famose Parodie zum besten gibt.«

      »Ich ziehe daraus einen höchst bedeutungsvollen Schluß«, rief unterdessen Lebedjew mit schmetternder Stimme. »Aber untersuchen wir vor allen Dingen den psychologischen Zustand und die juristische Anschauungsweise des Verbrechers. Wir sehen, daß der Verbrecher oder sozusagen mein Klient trotz der Schwierigkeit, sich etwas anderes Eßbares zu beschaffen, mehrere Male im Laufe seines merkwürdigen Lebensganges den Wunsch zu bereuen bekundet und sich von der Geistlichkeit abwendet. Wir ersehen dies deutlich aus den Tatsachen: es wird erwähnt, daß er fünf oder sechs Kinder verspeist hat, eine vergleichsweise niedrige Zahl, die aber dafür in anderer Hinsicht interessant ist. Es ist klar, daß er, von furchtbaren Gewissensbissen gequält (denn mein Klient ist ein religiöser Mensch, der ein Gewissen besitzt, was ich beweisen werde), und um nach Möglichkeit seine Sünde zu verringern, versuchsweise sechsmal die mönchische Nahrung mit Laiennahrung vertauschte. Daß dies versuchsweise geschah, ist wiederum unzweifelhaft; denn wäre es nur zum Zweck gastronomischer Abwechslung geschehen, so wäre die Zahl sechs sehr gering gewesen: warum nur sechs Stück und nicht dreißig? (Ich nehme die Hälfte von der Zahl der verzehrten Mönche.) Aber wenn dies nur ein Versuch war, hervorgegangen aus angstvoller Verzweiflung über das Verbrechen der Religionsspötterei und Kirchenschändung, dann wird diese Zahl sechs sehr verständlich; denn sechs Versuche waren zur Beruhigung der Gewissensbisse ganz ausreichend, da diese Versuche unmöglich erfolgreich sein konnten. Erstens ist meiner Ansicht nach ein Kind gar zu klein, das heißt zu gering an Masse, so daß in einem bestimmten Zeitraum drei- bis fünfmal soviel Laienkinder erforderlich sein würden als Geistliche, und die Sünde, wenn sie sich auch auf der einen Seite verringerte, doch schließlich auf der andern Seite wüchse, nicht qualitativ, aber quantitativ. Bei diesen Erwägungen, meine Herren, versetze ich mich natürlich in die Seele eines Verbrechers aus dem zwölften Jahrhundert. Was mich selbst, einen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, anlangt, so würde ich darüber vielleicht anders urteilen, was ich hiermit zu Ihrer Kenntnis bringe, meine Herren, so daß Sie keinen Anlaß haben, über mich zu grinsen, und für Sie, General, schickt sich das nun schon ganz und gar nicht. Zweitens ist ein Kind meiner Ansicht nach nicht nahrhaft, vielleicht sogar von zu süßlichem, fadem Geschmack, so daß sein Genuß, ohne die Bedürfnisse des Magens zu befriedigen, nur Gewissensbisse hinterläßt. Jetzt kommt nun die Schlußfolgerung, das Finale, meine Herren, das Finale, in welchem die Antwort auf eine der wichtigsten Fragen der damaligen und der jetzigen Zeit enthalten ist! Der Verbrecher geht zu guter Letzt hin, denunziert sich bei der Geistlichkeit und übergibt sich in die Hände der Gerechtigkeit. Man bedenke, welche Qualen ihn in damaliger Zeit erwarteten, welche Räder, Scheiterhaufen und Flammen! Was hat ihn dazu getrieben, hinzugehen und sich zu denunzieren? Warum ist er nicht einfach bei der Zahl sechzig stehengeblieben und hat sein Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzug bewahrt? Warum hat er nicht einfach dem Verspeisen von Mönchen entsagt und büßend als Einsiedler gelebt? Warum ist er endlich nicht selbst Mönch geworden? Hier ist die Lösung! Also gab es etwas, was stärker war als alle Scheiterhaufen und Flammen, stärker selbst als eine zwanzigjährige Gewohnheit! Also gab es eine Idee, die stärker war als alle Leiden, Mißernten, Foltern, Pest, Aussatz und all diese Höllenqualen, die die Menschheit ohne jene allumfassende Idee, die den Seelen die Richtung gab und die Lebensquellen befruchtete, nicht hätte ertragen können! Zeigen Sie mir etwas Ähnliches, gleich Starkes in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen ... das heißt, ich sollte eigentlich sagen: in unserem Jahrhundert der Dampfschiffe und der Eisenbahnen; aber ich sage: in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen; denn ich bin betrunken, aber gerecht! Zeigen Sie mir eine die jetzige Menschheit umfassende Idee, die auch nur halb so stark wäre wie die jener Jahrhunderte! Wagen Sie schließlich zu sagen, daß die Quellen des Lebens unter diesem ›Stern‹, diesem Netz, das die Menschen umstrickt, nicht schwächer fließen, nicht trübe geworden sind! Suchen Sie mich nicht durch Ihre Reden von der Wohlhabenheit, vom Reichtum, von der Seltenheit des Hungers und von der Schnelligkeit der Verkehrsmittel zu schrecken! Der Reichtum ist größer geworden, aber die sittliche Kraft geringer; die allumfassende Idee fehlt; alles ist schlaff geworden, alles ist ausgekocht, alle Menschen sind ausgekocht! Wir alle, wir alle, wir alle sind ausgekocht ...! Aber genug davon; darum handelt es sich jetzt nicht, sondern darum, ob wir nicht den für die Gäste hergerichteten Imbiß auftragen lassen sollen, hochverehrter Fürst?«

      Lebedjew, der einige seiner Zuhörer schon wirklich unwillig gemacht hatte (es muß übrigens bemerkt werden, daß während der ganzen Zeit ununterbrochen neue Flaschen entkorkt wurden), versöhnte durch den unerwarteten Schluß seiner Rede, durch den Hinweis auf den Imbiß, sogleich alle seine Gegner wieder mit sich. Er selbst nannte einen solchen Schluß einen geschickten Advokatenkniff. Es erhob sich wieder heiteres Gelächter; die Gäste wurden wieder lebendig; alle standen vom Tisch auf, um die Glieder zu recken und in der Veranda umherzugehen. Nur Keller fühlte sich durch Lebedjews Rede nicht befriedigt und befand sich in starker Aufregung.

      »Er greift die Aufklärung an, predigt den Fanatismus des zwölften Jahrhunderts, spielt den Tugendhaften, ohne doch im Herzen unschuldig zu sein: möchten Sie ihn nicht einmal fragen, auf welche Weise er selbst sich ein Haus erworben hat?« sagte er laut, indem er alle und jeden anhielt.

      »Ich habe einen echten Erklärer der Offenbarung des Johannes gekannt«, sagte der General in einer andern Ecke zu andern Zuhörern, unter denen sich auch Ptizyn befand, den er an einen Knopf gefaßt hatte, »den verstorbenen Grigori Semjonowitsch Burmistrow; der verstand es, die Herzen sozusagen zu entflammen. Zuerst setzte er sich die Brille auf und schlug ein großes, altes Buch in schwarzem Ledereinband auf; na, und dazu der graue Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen! Er begann seine Auslegung mit finsterer, strenger Miene; selbst Generäle verbeugten sich vor ihm, und Damen fielen in Ohnmacht. Na, und dieser hier schließt mit einem Imbiß! Ein ganz tolles Benehmen!«

      Ptizyn lächelte, während er dem General zuhörte, und hatte anscheinend die Absicht, nach seinem Hut zu greifen; aber entweder konnte er sich nicht dazu entschließen, oder er vergaß sein Vorhaben beständig wieder. Ganja hatte schon vor dem Augenblick, wo alle vom Tisch aufgestanden waren, auf einmal aufgehört zu trinken und sein Glas von sich fortgeschoben; ein düsterer Ausdruck war über sein Gesicht hinweggezogen. Als man sich vom Tisch erhob, trat er zu Rogoschin und setzte sich neben ihn. Man konnte denken, daß sie in den freundschaftlichsten Beziehungen zueinander standen. Rogoschin, der anfangs ebenfalls mehrere Male vorgehabt hatte, sachte wegzugehen, saß jetzt regungslos da, mit gesenktem Kopf, und als ob auch er vergessen hätte, daß er hatte weggehen wollen. Er hatte den ganzen Abend über keinen Tropfen Wein getrunken und war sehr nachdenklich gewesen; nur selten hatte er die Augen aufgeschlagen und jeden einzelnen angeblickt. Jetzt aber konnte man denken, daß er hier auf etwas für ihn sehr Wichtiges warte und vorher nicht weggehen wolle.

      Der