Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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Dieser hatte sogar vergessen, beim Weggehen Adieu zu sagen, und nicht einmal mit dem Kopf genickt, was zu der Höflichkeit und Aufmerksamkeit des Fürsten, die Lebedjew recht wohl kannte, wenig stimmte.

      Es ging schon auf zwölf. Der Fürst wußte, daß er bei Jepantschins in ihrer Stadtwohnung jetzt nur den dienstlich beschäftigten General treffen konnte, und auch den kaum. Er sagte sich, daß der General ihn womöglich sogleich mit Beschlag belegen und mit nach Pawlowsk hinausnehmen würde, und es lag ihm doch sehr daran, vorher noch einen Besuch zu machen. Auf die Gefahr hin, daß es ihm für Jepantschins zu spät werden und er genötigt sein würde, seine Fahrt nach Pawlowsk bis zum nächsten Tag aufzuschieben, entschloß sich der Fürst dazu, zunächst jenes Haus aufzusuchen, wohin es ihn so sehr verlangte.

      Dieser Besuch war für ihn übrigens in gewisser Hinsicht gewagt. Er zauderte und schwankte. Er wußte von dem Haus, daß es in der Gorochowaja-Straße lag, nicht weit von der Sadowaja-Straße, und entschied sich dafür, hinzugehen, in der Hoffnung, es werde ihm noch gelingen, ehe er hinkomme, einen endgültigen Beschluß zu fassen. Als er an die Kreuzung der Gorochowaja- und Sadowaja-Straße kam, wunderte er sich selbst über seine ungewöhnliche Aufregung; er hatte nicht erwartet, daß ihm das Herz so schmerzhaft schlagen würde. Ein Haus zog, wahr scheinlich durch seinen besonderen Anblick, schon von weitem seine Aufmerksamkeit auf sich, und der Fürst erinnerte sich später, daß er zu sich gesagt hatte: »Es wird gewiß dieses Haus sein!« Mit außerordentlicher Neugier ging er näher heran, um seine Mutmaßung auf ihre Richtigkeit zu prüfen; er fühlte, daß es ihm aus irgendeinem Grund besonders unangenehm sein würde, wenn er es sollte erraten haben. Es war dies ein großes, finsteres, dreistöckiges Haus, ohne allen architektonischen Schmuck, von schmutziggrüner Farbe. Einige, allerdings nur sehr spärliche derartige Häuser, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut sind, haben sich namentlich in diesen Straßen Petersburgs (obwohl sich doch in dieser Stadt so vieles ändert) fast unversehrt erhalten. Sie sind solide gebaut, mit dicken Mauern und sehr wenigen Fenstern; im Erdgeschoß sind die Fenster manchmal vergittert. Meist befindet sich unten ein Wechselgeschäft. Der Skopze, der in dem Wechselgeschäft sitzt, wohnt oben. Ein solches Haus macht von außen und von innen einen ungastlichen, unfreundlichen Eindruck; es sucht sich gleichsam zu verstecken und zu verbergen; aber warum eigentlich schon der bloße Anblick des Hauses einen solchen Eindruck macht, das ist schwer zu sagen. Die architektonischen Linien müssen wohl auf geheimnisvolle Weise diese Wirkung ausüben. In diesen Häusern wohnen fast aus schließlich Kaufleute. Der Fürst näherte sich dem Tor, sah nach dem Türschild und las: »Haus des erblichen Ehrenbürgers Rogoschin.«

      Seinem Zaudern ein Ende machend, öffnete er die Glastür, die hinter ihm geräuschvoll wieder zuschlug, und begann die Haupttreppe zum zweiten Stock hinaufzusteigen. Die Treppe war dunkel, kunstlos aus Steinstufen gebaut, die Wände mit roter Farbe angestrichen. Er wußte, daß Rogoschin mit seiner Mutter und seinem Bruder das ganze zweite Stockwerk dieses düsteren Hauses bewohnte. Der Diener, der dem Fürsten öffnete, führte ihn ohne Anmeldung hinein; die Führung dauerte lange: sie passierten einen für Festlichkeiten bestimmten Saal mit marmorartig bemalten Wänden, eichenem Parkettfußboden und schweren, plumpen Möbeln aus den zwanziger Jahren; sie gingen auch durch einige kleine Zimmerchen, wobei sie Bogen und Zickzacke machten, ein paar Stufen hinauf- und dann wieder ebensoviele hinunterstiegen, und klopften endlich an einer Tür an. Parfen Semjonowitsch öffnete selbst; als er den Fürsten erblickte, wurde er so blaß und blieb so starr auf dem Fleck stehen, daß er mit seinem unbeweglichen, erschrockenen Blick und dem zu einem verständnislosen Lächeln schiefgezogenen Mund eine Zeitlang einem steinernen Götzenbild glich; er schien in dem Besuch des Fürsten etwas Unglaubliches, ja beinah Wunderbares zu finden. Der Fürst hatte zwar etwas Derartiges erwartet, war aber doch erstaunt.

      »Vielleicht komme ich nicht gelegen, Parfen; ich kann ja wieder gehen«, sagte er schließlich verlegen.

      »Nicht doch, du kommst durchaus gelegen!« erwiderte Parfen, der endlich seine Fassung wiedergewann. »Bitte, tritt näher!«

      Sie duzten sich. Es hatte sich in Moskau so getroffen, daß sie häufig und lange zusammen waren, und es hatte bei diesem Zusammensein auch Augenblicke gegeben, die auf das Herz des einen wie des andern einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Jetzt hatten sie einander mehr als drei Monate lang nicht gesehen.

      Die Blässe und ein leises, huschendes Zucken waren noch immer nicht von Rogoschins Gesicht gewichen. Er hatte zwar seinen Gast eingeladen näherzutreten; aber seine außerordentliche Befangenheit dauerte fort. Während er den Fürsten zu einem Lehnsessel führte und am Tisch Platz nehmen ließ, wandte sich dieser zufällig zu ihm hin und blieb überrascht von seinem seltsam starren Blick stehen. Dieser Blick schien den Fürsten zu durchbohren und erinnerte ihn zugleich an etwas Peinliches, Düsteres, das er vor wenigen Stunden gesehen hatte. Er setzte sich nicht hin, sondern blieb, ohne sich zu rühren, stehen und blickte Rogoschin eine Weile gerade in die Augen: diese Augen schienen im ersten Moment noch stärker aufzuflammen. Endlich lächelte Rogoschin, aber etwas verlegen und verwirrt.

      »Warum siehst du mich denn so unverwandt an?« murmelte er. »Setz dich doch!«

      Der Fürst setzte sich.

      »Parfen«, sagte er, »sag mir aufrichtig: wußtest du, daß ich heute nach Petersburg kommen würde?«

      »Daß du herkommen würdest, habe ich mir gedacht«, versetzte Rogoschin. »Und wie du siehst, habe ich mich nicht geirrt«, fügte er boshaft lächelnd hinzu. »Aber woher hätte ich wissen sollen, daß du gerade heute kommen würdest?«

      Die schroffe Heftigkeit und der seltsam gereizte Ton der an die Antwort angeschlossenen Frage befremdeten den Fürsten noch mehr.

      »Aber selbst wenn du wußtest, daß ich gerade heute kommen würde, so brauchst du doch nicht so gereizt zu sein«, sagte der Fürst leise, nicht ohne Verlegenheit.

      »Warum fragtest du denn, ob ich es gewußt habe?«

      »Als ich vorhin aus dem Waggon stieg, sah ich zwei ganz ebensolche Augen auf mich gerichtet wie die, mit denen du mich soeben von hinten ansahst.«

      »Na so was! Wessen Augen waren denn das?« murmelte Rogoschin argwöhnisch.

      Es schien dem Fürsten, als sei er zusammengezuckt.

      »Ich weiß es nicht; es war einer aus der dichten Menge; ich halte sogar für möglich, daß es mir nur so vorgekommen ist; dergleichen Täuschungen begegnen mir in letzter Zeit häufiger. Ich habe beinah dieselbe Empfindung, Bruder Parfen, wie vor fünf Jahren, als ich meine Anfälle bekam.«

      »Na also, vielleicht ist es dir nur so vorgekommen; ich weiß es nicht ...«, murmelte Parfen.

      Das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht stand ihm in diesem Augenblick sehr schlecht; dieses Lächeln hatte sozusagen einen Sprung bekommen, und Parfen war trotz aller Bemühungen nicht imstande, es wieder zusammenzukleben.

      »Nun, willst du wieder ins Ausland gehen, ja?« fragte er und fügte plötzlich hinzu: »Erinnerst du dich noch, wie wir im Herbst auf der Bahn zusammen von Pskow hierher fuhren ..., du im Mantel, weißt du noch, und in Gamaschen?«

      Rogoschin lachte plötzlich laut auf, dieses Mal mit unverhohlener Feindseligkeit, und wie wenn er sich freute, daß es ihm gelungen war, diese Gesinnung wenigstens auf irgendeine Weise zum Ausdruck zu bringen.

      »Bleibst du hier für die Dauer wohnen?« fragte der Fürst, indem er das Arbeitszimmer musterte.

      »Ja, ich bin hier zu Hause. Wo sollte ich auch sonst hin?«

      »Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe von dir Dinge gehört, die dir gar nicht ähnlich sehen.«

      »Was reden die Leute nicht alles!« bemerkte Rogoschin trocken.

      »Aber du hast doch deine ganze Leibkohorte weggejagt und wohnst nun hier im elterlichen Haus und begehst keine tollen Streiche mehr. Das ist recht schön. Gehört das Haus dir oder euch allen gemeinsam?«

      »Das Haus gehört der Mutter. Zu ihr geht es