Zustand zu suchen. Er empfand einen Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die auf seine Seele und auf sein Herz eindrangen. »Aber bin ich denn etwa an alldem schuld?« murmelte er vor sich hin, fast ohne sich seiner Worte bewußt zu werden.
Um sechs Uhr fand er sich auf dem Bahnhof der Bahn nach Zarskojeselo. Das Alleinsein war ihm bald unerträglich geworden; ein neues Verlangen ergriff mit heißer Glut sein Herz, und das Dunkel, in dem seine Seele sich härmte, wurde für einen Augenblick von einem hellen Schein erleuchtet. Er nahm ein Billett nach Pawlowsk und wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt der Abfahrt; aber er hatte immer das Gefühl, als verfolge ihn etwas, und dies war Wirklichkeit, nicht etwa ein Phantasiegebilde, wie er vielleicht zu denken geneigt war. Als er schon beinah im Waggon saß, warf er plötzlich das soeben gekaufte Billett auf den Boden und ging, verwirrt und in Gedanken versunken, wieder aus dem Bahnhof hinaus. Eine Weile darauf fiel ihm auf der Straße plötzlich etwas ein; es war, als ob ihm auf einmal etwas sehr Seltsames, was ihn schon lange beunruhigt hatte, klar würde. Er ertappte sich mit Bewußtsein bei einer Beschäftigung, die er schon lange fortgesetzt, aber bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte: nämlich schon seit mehreren Stunden, schon als er noch in der »Waage« war, vielleicht sogar schon, ehe er dorthin kam, hatte er von Zeit zu Zeit angefangen, gewissermaßen etwas um sich herum zu suchen. Er hatte diese Tätigkeit mitunter wieder vergessen, sogar auf längere Zeit, auf eine halbe Stunde, dann aber auf einmal von neuem sich unruhig umzusehen und ringsumher zu suchen begonnen.
Aber kaum hatte er an sich dieses krankhafte und bisher ganz unbewußte Verlangen bemerkt, das ihn schon so lange beherrscht hatte, als plötzlich vor seinem geistigen Auge noch eine andere Erinnerung auftauchte, die ihn außerordentlich interessierte; er erinnerte sich, daß er in dem Augenblick, als er sich dieses beständigen Suchens bewußt wurde, auf dem Trottoir vor einem Schaufenster gestanden und mit großem Interesse die dort ausgelegten Waren betrachtet hatte. Jetzt nun lag ihm sehr daran, unter allen Umständen festzustellen: ob er wirklich soeben, vielleicht vor nur fünf Minuten, vor diesem Schaufenster gestanden habe und ihm das nicht etwa nur so vorgekommen sei und er irgendeine Verwechslung begangen habe. Existierten dieser Laden und diese Waren wirklich? Er hatte ja heute tatsächlich das Gefühl, daß er sich in einem besonders krankhaften Zustand befinde, fast in demselben Zustand, der sich ehemals, zu Beginn der Anfälle seiner früheren Krankheit, bei ihm einzustellen pflegte. Er wußte, daß er in der Zeit, wo sich die Anfälle vorbereiteten, außerordentlich zerstreut war und oft sogar Gegenstände und Personen verwechselte, wenn er sie ohne besondere Aufmerksamkeit ansah. Aber es war auch noch ein spezieller Grund vorhanden, weshalb ihm jetzt so sehr daran gelegen war, festzustellen, ob er damals vor einem Laden gestanden hatte; unter den im Schaufenster ausgelegten Gegenständen war einer gewesen, den er betrachtet und dabei sogar auf sechzig Kopeken taxiert hatte; daran erinnerte er sich trotz all seiner Zerstreutheit und Unruhe. Folglich, wenn dieser Laden existierte und der betreffende Gegenstand tatsächlich unter den Waren ausgestellt war, so mußte er eigens wegen dieses Gegenstandes stehengeblieben sein. Also mußte dieser Gegenstand ihn so sehr interessiert haben, daß er seine Aufmerksamkeit sogar zu einer Zeit auf sich gezogen hatte, wo er sich, nachdem er eben den Bahnhof verlassen, in so arger Verwirrung befunden hatte. Er ging, fast sehnsüchtig nach rechts blickend, zurück, und sein Herz schlug heftig vor unruhiger, ungeduldiger Erwartung. Aber da war ja dieser Laden; er hatte ihn endlich gefunden! Er war schon fünfhundert Schritte von ihm entfernt gewesen, als er den Entschluß gefaßt hatte umzukehren. Und da war auch der Gegenstand für sechzig Kopeken; »gewiß, sechzig Kopeken; mehr ist er nicht wert!« sagte er sich jetzt auf das bestimmteste und lachte auf. Aber dieses Lachen war ein hysterisches; er fühlte sich sehr bedrückt. Er erinnerte sich jetzt deutlich, daß er gerade hier, während er vor diesem Schaufenster stand, sich plötzlich umgedreht hatte, ebenso wie eine Weile vorher, als er Rogoschins Augen auf sich gerichtet fühlte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er sich mit dem Laden und dem Gegenstand nicht geirrt hatte (wovon er übrigens auch schon vor der Nachprüfung überzeugt gewesen war), interessierte er sich nicht mehr für den Laden und ging so schnell wie möglich von ihm weg. Alles dies mußte er unter allen Umständen möglichst bald überdenken; jetzt war es ihm klar, daß er auch auf dem Zarskojeseloer Bahnhof nicht nur so eine leere Vorstellung gehabt hatte, sondern ihm unbedingt etwas Wirkliches begegnet war, das mit all dieser seiner früheren Unruhe zusammenhing. Aber der innerliche unüberwindliche Widerwille gewann wieder die Oberhand; der Fürst mochte nichts überlegen und schickte sich nicht an, es zu tun; er versank ganz in Gedanken an etwas anderes. Er dachte unter anderm daran, daß es in seinem epileptischen Zustand fast unmittelbar vor einem Anfall (falls der Anfall im Wachen eintrat) eine Phase gegeben hatte, wo auf einmal mitten in der Traurigkeit und der seelischen Finsternis und der Niedergeschlagenheit sein Gehirn für Augenblicke gleichsam aufgeflammt war und all seine Lebenskräfte sich plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung des Lebens und das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst. Aber diese Momente, diese Lichtblitze waren nur Vorläufer jener letzten, entscheidenden Sekunde (es war nie mehr als eine Sekunde), mit der der Anfall selbst begann. Diese Sekunde war freilich unerträglich. Wenn er später, nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit, über diesen Augenblick nachdachte, so sagte er sich oft, daß dieses Aufschimmern und Aufblitzen eines erhöhten Selbstgefühls und Selbstbewußtseins und somit auch eines »höheren Seins« nichts anderes sei als Krankheit, eine Aufhebung des normalen Zustandes, und daß, wenn es sich so verhalte, dies überhaupt kein höheres Sein sei, sondern ganz im Gegenteil zu der allerniedrigsten Art des Seins gerechnet werden müsse. Und trotzdem gelangte er schließlich zu einer höchst paradoxen Schlußfolgerung: »Was liegt daran, daß dies Krankheit ist«, sagte er sich, »was liegt daran, daß es eine nicht normale Anspannung ist, wenn das Resultat, der Augenblick dieser Empfindung, demjenigen, der nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit sich daran erinnert und es überdenkt, als die höchste Stufe der Harmonie und Schönheit erscheint und ihm ein bisher ungeahntes Gefühl der Fülle, des Ebenmaßes, der Versöhnung und des entzückten, gebetartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens verleiht?« Diese nebelhaften Ausdrücke kamen ihm selbst sehr verständlich vor und erschienen ihm nur als gar zu schwach. Daran, daß dies tatsächlich »Schönheit und Gebet«, und »die höchste Synthese des Lebens« sei, daran konnte er keinen Zweifel hegen und keinen Zweifel für zulässig erachten. Es waren dies ja doch keine traumhaften Visionen, wie sie die Folge des Genusses von Haschisch, Opium oder Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man diesen Zustand kurz bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblick des Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: »Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!«, so war dieser Augenblick sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie standen ihm als die deutliche Folge jener höchsten Augenblicke nur zu klar vor Augen. Er würde darüber natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler; aber die Realität des Gefühles verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch; er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glücks willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne.
»In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoschin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹. Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit