Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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noch über viele andere Gegenstände gesprochen. »Rogoschin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt«, dachte der Fürst bei sich.

      Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer; ein dunkles Gewölbe umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob ein Gewitter in noch ferner Aussicht stände. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und mit seiner Denktätigkeit an jeden äußeren Gegenstand und tat dies gern und eifrig, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte; aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er so sehr wünschte sich loszumachen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant des Gasthauses beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.

      Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug, wie eine dämonische Versuchung, auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in der Richtung nach der Peterburgskaja zu. Er hatte vorhin auf dem Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Peterburgskaja zu zeigen; das hatte dieser auch getan; aber der Fürst war dann nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen; das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedjews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. »Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren; sonst hätte Kolja der Abrede gemäß etwas in der ›Waage‹ hinterlassen.« Wenn er also jetzt hinging, so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe, qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher Gedanke war ihm gekommen ...

      Aber es genügte ihm vollkommen, daß er ging und wußte, wohin er ging: einen Augenblick nach dem Entschluß war er bereits in Bewegung, fast ohne auf seinen Weg zu achten. Seinen »plötzlichen Gedanken« länger zu überlegen, wurde ihm sofort furchtbar widerwärtig und beinah unmöglich. Mit qualvoll angestrengter Aufmerksamkeit betrachtete er alles, was ihm vor die Augen kam, den Himmel, die Newa. Er fing ein Gespräch mit einem ihm begegnenden kleinen Kind an. Vielleicht steigerte sich auch sein epileptischer Zustand immer mehr und mehr. Das Gewitter schien wirklich heraufzuziehen, wiewohl nur langsam. In der Ferne begann es schon zu donnern. Es wurde sehr schwül ...

      Wie einem manchmal eine Melodie nicht aus dem Kopf geht, obwohl sie einem zum Ekel geworden ist, so mußte er jetzt aus nicht recht verständlichem Grund fortwährend an Lebedjews Neffen denken, den er vor einigen Stunden kennengelernt hatte. Seltsam war, daß dieser ihm immer in der Gestalt jenes Mörders ins Gedächtnis kam, dessen damals Lebedjew selbst Erwähnung getan hatte, als er ihm seinen Neffen vorstellte. Ja, von diesem Mörder hatte er noch vor ganz kurzer Zeit in der Zeitung gelesen. Über derartige Dinge hatte er seit seiner Rückkehr nach Rußland vieles gelesen und gehört und all diese Geschichten eifrig verfolgt. So hatte er vor einer Weile auch in dem Gespräch mit dem Kellner gerade für diesen Mörder der Familie Schemarin ein lebhaftes Interesse bekundet. Der Kellner war mit ihm gleicher Meinung gewesen; daran erinnerte er sich. Er erinnerte sich auch an den Kellner; dies war ein kluger, junger Bursche von ernstem, vorsichtigem Wesen; »aber«, sagte sich der Fürst, »Gott mag wissen, was er für ein Mensch ist; es ist schwer, in einem neuen Land neue Menschen zu durchschauen.« An die russische Seele begann er übrigens leidenschaftlich zu glauben. Oh, viel, viel ihm ganz Neues, Ungeahntes, Unerwartetes hatte er in diesen sechs Monaten kennengelernt! Aber eine fremde Seele, das ist ein dunkles Rätsel; auch die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, wenigstens für viele Menschen. Da hatte er nun lange mit Rogoschin verkehrt, nahe verkehrt, brüderlich verkehrt; aber kannte er Rogoschin etwa? Welch ein Wirrwarr und wieviel Häßliches war manchmal in einer Menschenseele, diesem Chaos, enthalten! Und was für ein garstiger, selbstzufriedener Patron war dieser Lebedjewsche Neffe von vorhin! »Aber was mache ich denn?« fuhr der Fürst in seinen Träumereien fort.

      »Ist er es denn etwa gewesen, der diese sechs Menschen ermordet hat? Ich scheine da etwas zu verwechseln ... wie sonderbar! Der Kopf ist mir etwas schwindlig ... Aber was für ein sympathisches, liebes Gesicht hat Lebedjews älteste Tochter, die, die mit dem Kind auf dem Arm dastand; was für einen unschuldigen, kindlichen Ausdruck und was für ein kindliches Lachen!« Seltsam, daß er dieses Gesicht bisher vergessen hatte und es ihm erst jetzt wieder einfiel! Lebedjew, der die Seinigen durch Trampeln mit den Füßen einschüchtern möchte, liebt sie wahrscheinlich alle sehr. Und so sicher wie zwei mal zwei vier ist, liebt Lebedjew auch seinen Neffen von Herzen!

      Warum hat er sich übrigens beikommen lassen, über diese Leute so zu urteilen, er, der doch erst heute angekommen ist? Wie kann er solche Verdammungsurteile fällen? Da hat ihm gleich heute Lebedjew so ein Problem geliefert: hat er denn etwa erwartet, in Lebedjew einen solchen Menschen zu finden? Hat er etwa Lebedjew früher von dieser Seite gekannt? Lebedjew und die Gräfin Dubarry – o Gott! Wenn übrigens Rogoschin einen Mord begehen sollte, so wird er das wenigstens nicht in so widerwärtiger Weise tun. Von einem solchen seelischen Chaos würde bei ihm nicht die Rede sein. Ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument und sechs in völliges Delirium versetzte Menschen! Besitzt etwa Rogoschin ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument ...? »Aber ... ist es denn bereits eine ausgemachte Sache, daß Rogoschin einen Mord begehen wird?« dachte der Fürst und zuckte dabei zusammen. »Ist es meinerseits nicht ein Verbrechen und eine Gemeinheit, dies mit solcher zynischen Offenheit anzunehmen?« rief er, und die Röte der Scham ergoß sich über sein Gesicht. Er war ganz bestürzt und blieb wie angenagelt auf dem Weg stehen. Er erinnerte sich an das, was ihm vor einem Weilchen auf dem Zarskojeseloer Bahnhof und am Morgen auf dem Nikolai-Bahnhof begegnet war, und daran, wie er Rogoschin gerade ins Gesicht nach den Augen gefragt hatte, und an Rogoschins Kreuz, das er jetzt selbst trug, und wie ihn Rogoschins Mutter gesegnet hatte, zu der er von diesem selbst hingeführt worden war, und an die letzte krampfhafte Umarmung und den schließlichen Verzicht Rogoschins auf der Treppe – und nach alledem ertappte er sich nun dabei, wie er fortwährend um sich herum etwas suchte; und dann dieser Laden und dieser Gegenstand ... was für eine Gemeinheit! Und nach alledem ging er jetzt »mit einer besonderen Absicht, mit einem besonderen plötzlichen Gedanken« dorthin! Verzweiflung und Leid ergriffen seine ganze Seele. Der Fürst wollte unverzüglich umkehren und nach seinem Gasthaus zurückgehen; er machte auch wirklich kehrt und schlug diese Richtung ein; aber nach einer Minute blieb er wieder stehen, überlegte, wendete um und setzte seinen früheren Weg fort.

      Und jetzt befand er sich schon in der Peterburgskaja und war nahe bei dem betreffenden Haus; jetzt ging er ja nicht mit der früheren Absicht dorthin und nicht »mit dem besonderen Gedanken«! Wie wäre das auch möglich! Ja, seine Krankheit kehrte wieder; das war unzweifelhaft; vielleicht bekam er noch heute einen Anfall. Der bevorstehende Anfall war auch die Ursache dieser ganzen seelischen Dunkelheit und dieses »Gedankens«! Jetzt war die Dunkelheit zerstreut, der Dämon vertrieben; es gab keine Zweifel mehr; in seinem Herzen herrschte eitel Freude! Und ... er hatte »sie« so lange nicht gesehen; es war ihm Bedürfnis, sie wiederzusehen; und ... ja, jetzt würde er wünschen, Rogoschin zu treffen; er würde ihn bei der Hand nehmen, und sie würden zusammen hingehen ... Sein Herz war rein; war er denn etwa Rogoschins Nebenbuhler? Morgen wird er selbst zu Rogoschin gehen und ihm sagen, daß er sie gesehen hat. Er ist ja, wie Rogoschin vorhin gesagt hat, nur um sie zu sehen, hierher geeilt! Möglicherweise trifft er sie zu Hause; es ist ja doch nicht sicher, daß sie sich in Pawlowsk befindet!

      Ja, das alles mußte jetzt klargestellt werden, damit ein jeder deutlich in dem Herzen des andern lesen konnte und es keine düsteren, leidenschaftlichen Verzichte mehr gab, wie vor einer Weile Rogoschins Verzicht; nein, alles mußte sich frei und und im Hellen vollziehen. War denn Rogoschin nicht fähig, ein Leben im Hellen zu führen? Er sagte, er liebe sie in anderer Weise; er habe mit ihr keinerlei derartiges Mitleid. Allerdings fügte er dann noch hinzu: »Dein Mitleid ist vielleicht noch größer als meine Liebe«; aber damit verleumdet er sich selbst. Hm ...! Rogoschin bei einem Buch ..., ist das nicht schon »Mitleid«,