Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


Скачать книгу

täglich fünfzehn Stunden lang zu Mittag und zu Abend gespeist und Tee getrunken hätten, und das alles dreißig Jahre lang ohne die geringste Unterbrechung; es sei kaum Zeit gewesen, das Tischtuch zu wechseln. Der eine sei aufgestanden und weggegangen und ein anderer gekommen; und an den patriotischen Festtagen sei die Zahl seiner Gäste auf dreihundert gestiegen. Und bei der tausendjährigen Jubiläumsfeier Rußlands seien es siebenhundert gewesen. Das ist ja schrecklich; solche Erzählungen sind ein sehr übles Symptom; so gastfreundliche Herren auch nur zu empfangen, ist bedenklich, und da habe ich mir gedacht, ob er nicht für Sie und für mich doch gar zu gastfreundlich ist.«

      »Aber Sie stehen, wie es scheint, mit ihm auf sehr gutem Fuß?«

      »Wir verkehren miteinander wie Brüder, und ich fasse das, was er so sagt, als Scherz auf. Mögen wir auch miteinander verwandt sein; was schadet es mir? Das kann mir nur eine Ehre sein. Ich halte ihn für einen höchst interessanten Menschen, trotz der zweihundert Tischgäste und der noch größeren Zahl bei der Tausendjahrfeier Rußlands. Ich rede zu Ihnen ganz aufrichtig. Sie sprachen soeben von Geheimnissen, Fürst, und sagten, ich träte immer zu Ihnen heran, wie wenn ich Ihnen ein Geheimnis mitteilen wollte; nun, es trifft sich gerade, daß wirklich ein Geheimnis vorliegt: eine gewisse Person hat mir soeben mitgeteilt, daß sie sehr wünsche, mit Ihnen eine geheime Zusammenkunft zu haben.«

      »Warum denn eine geheime? Der Heimlichkeit bedarf es nicht. Ich werde selbst zu ihr hingehen, womöglich gleich heute.«

      »Gewiß, der Heimlichkeit bedarf es nicht«, versetzte Lebedjew gestikulierend. »Auch fürchtet sie gar nicht das, was Sie vermuten. Apropos, der Unmensch kommt jeden Tag her, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen; ist Ihnen das bekannt?«

      »Sie nennen ihn so oft einen Unmenschen; das ist mir sehr verdächtig.«

      »Sie brauchen gar keinen Verdacht zu haben, nicht den geringsten Verdacht«, wehrte Lebedjew eilig ab. »Ich wollte Ihnen nur bemerken, daß die betreffende Person sich nicht vor ihm, sondern vor einem ganz andern fürchtet.«

      »Aber vor wem denn? Sagen Sie es doch schnell!« rief der Fürst ungeduldig angesichts der geheimnisvollen Grimassen Lebedjews.

      »Das ist eben das Geheimnis.«

      Dabei lächelte Lebedjew.

      »Wessen Geheimnis?«

      »Das ist Ihr eigenes Geheimnis. Sie selbst haben mir verboten, durchlauchtigster Fürst, in Ihrer Gegenwart davon zu sprechen ...«, murmelte Lebedjew, und nachdem er sich genugsam daran geweidet hatte, daß es ihm gelungen war, die Neugier seines Zuhörers bis zu peinlicher Ungeduld zu steigern, schloß er plötzlich: »Sie fürchtet sich vor Aglaja Iwanowna.«

      Der Fürst machte ein finsteres Gesicht und schwieg einen Augenblick.

      »Bei Gott, Lebedjew, ich werde Ihr Landhaus verlassen«, sagte er dann auf einmal. »Wo sind Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyns? Bei Ihnen? Auch denen haben Sie den Zutritt zu mir verwehrt und sie in Ihre eigenen Zimmer gelockt.«

      »Sie werden kommen, sie werden kommen! Sogar der General wird mit ihnen mitkommen. Alle Türen werde ich aufmachen, und meine Töchter werde ich herrufen, alle, alle, sofort, sofort«, flüsterte Lebedjew erschrocken unter lebhaften Handbewegungen und rannte dabei von einer Tür zur andern.

      In diesem Augenblick erschien Kolja, von der Straße kommend, auf der Veranda und meldete, daß hinter ihm Besuch komme: Lisaweta Prokofjewna mit ihren drei Töchtern.

      »Soll ich Ptizyns und Gawrila Ardalionowitsch hereinlassen oder nicht? Soll ich den General herein lassen oder nicht?« fragte Lebedjew hastig, der durch diese Nachricht in große Erregung versetzt worden war.

      »Warum denn nicht? Lassen Sie jeden ein, der zu mir will! Ich kann Ihnen sagen, Lebedjew, daß Sie mein Verhältnis zu den Menschen gleich von Anfang an falsch beurteilt haben; Sie sind da fortwährend in einem Irrtum befangen. Ich habe nicht den geringsten Grund, mich vor irgend jemand zu verstecken und zu verbergen«, bemerkte der Fürst lachend.

      Als Lebedjew ihn lachen sah, hielt er es für seine Pflicht, dies ebenfalls zu tun. Trotz seiner großen Aufregung war er offenbar sehr zufrieden.

      Die von Kolja gebrachte Nachricht erwies sich als zutreffend; er war den Jepantschins nur ein paar Schritte vorausgelaufen, um sie anzumelden, und die Besucher erschienen nun plötzlich von beiden Seiten: von der Straße her Jepantschins und aus den Zimmern das Ptizynsche Ehepaar, Ganja und General Iwolgin.

      Jepantschins hatten von der Krankheit des Fürsten und von seiner Anwesenheit in Pawlowsk erst soeben durch Kolja gehört; bis dahin hatte sich die Generalin in verständnisloser Verwunderung befunden. Schon vor drei Tagen hatte der General seiner Familie die Visitenkarte des Fürsten gezeigt; diese Karte rief bei Lisaweta Prokofjewna die bestimmte Überzeugung hervor, daß der Fürst selbst unmittelbar nach dieser Karte nach Pawlowsk kommen werde, um ihnen einen Besuch zu machen. Vergebens hielten ihr die Töchter entgegen, daß jemand, der ein halbes Jahr lang nicht geschrieben habe, es auch jetzt vielleicht gar nicht so eilig haben werde, und daß er vielleicht, auch abgesehen von den Beziehungen zu ihrer Familie, in Petersburg viel zu tun haben möge; woher könnten sie denn von seinen Geschäften Kenntnis haben? Die Generalin wurde über diese Bemerkungen geradezu böse und bot eine Wette darauf an, daß der Fürst spätestens am folgenden Tage erscheinen werde, wiewohl auch das schon sehr spät sei. Am folgenden Tag wartete sie den ganzen Vormittag; dann erwartete sie ihn zum Mittagessen, zum Abend, und als es schon ganz dunkel geworden war, ärgerte sich Lisaweta Prokofjewna über alles und jedes und zankte sich mit allen, selbstverständlich ohne unter den Gründen des Streits den Fürsten auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Auch am dritten Tag wurde seiner keinerlei Erwähnung getan. Als Aglaja sich beim Mittagessen unversehens die Bemerkung entschlüpfen ließ, Mama sei ärgerlich, weil der Fürst nicht komme, worauf der General sofort einschaltete, er für seine Person könne nichts dafür, da stand Lisaweta Prokofjewna auf und ging zornig vom Tisch. Endlich, am Abend, erschien Kolja mit einer Menge Nachrichten und erzählte ihnen alle Erlebnisse des Fürsten, soweit sie ihm bekannt waren. Das Resultat war, daß Lisaweta Prokofjewna triumphierte; Kolja wurde aber gehörig ausgescholten: »Sonst hockt er hier tagelang bei uns und ist nicht loszuwerden, und jetzt hat er uns nicht einmal eine Mitteilung zugehen lassen, wenn er schon selbst nicht herkommen mochte.« Kolja wollte eigentlich sofort wegen des Ausdrucks »nicht loszuwerden« aufbegehren, verschob dies aber doch auf ein anderes Mal, und wenn der Ausdruck nicht gar zu beleidigend gewesen wäre, so hätte er ihn vielleicht ganz entschuldigt, soviel Vergnügen machte ihm Lisaweta Prokofjewnas Aufregung und Unruhe bei der Nachricht von der Krankheit des Fürsten. Sie behauptete eine ganze Weile, sie müßten unverzüglich einen expressen Boten nach Petersburg schicken, um eine ärztliche Zelebrität ersten Ranges aufzusuchen und mit dem ersten Zug herbeizuschaffen. Aber die Töchter redeten ihr das aus; indes wollten sie hinter ihrer Mama nicht zurückbleiben, als diese sich sofort anschickte, den Kranken zu besuchen.

      »Er liegt auf dem Sterbebett«, sagte sie, sich eilig zurechtmachend; »wie werden wir uns da um Vorschriften der Etikette kümmern! Ist er ein Freund unseres Hauses oder nicht?«

      »Andererseits ist es auch nicht passend, sich jemandem so ohne weiteres aufzudrängen«, wollte Aglaja einwenden. »Na, dann komm nicht mit! Das wird sogar ganz gut sein; sonst ist niemand hier, um Jewgeni Pawlowitsch zu empfangen, wenn er kommen sollte.«

      Infolge dieser Bemerkung schloß sich Aglaja natürlich sofort den andern an, was sie übrigens ohnehin beabsichtigt hatte. Fürst Schtsch., der mit Adelaida im Gespräch begriffen war, erklärte sich auf deren Bitte unverzüglich bereit, die Damen zu begleiten. Er hatte schon früher, zu Anfang seiner Bekanntschaft mit Jepantschins, ein großes Interesse bekundet, als er von ihnen etwas über den Fürsten gehört hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß er mit diesem bereits bekannt war, und zwar hatten sie einander vor nicht allzu langer Zeit irgendwo kennengelernt und dann ungefähr vierzehn Tage lang zusammen in irgendeinem kleinen Städtchen gelebt. Das war vor drei Monaten gewesen. Fürst Schtsch. hatte ihnen sogar viel von dem Fürsten erzählt und sich überhaupt sehr sympathisch über ihn ausgesprochen, so daß er jetzt mit aufrichtigem Vergnügen hinging, um einen alten Bekannten zu