(Oh, wie quälte den Fürsten »das Ungeheuerliche«, »das Unwürdige« dieser Überzeugung, »dieser unwürdigen Ahnung«, und wie klagte er sich selbst an!) »Sage doch, wenn du es wagst, wovon du überzeugt bist!« sagte er fortwährend vorwurfsvoll und herausfordernd zu sich selbst; »formuliere es; wage es, deinen Gedanken vollständig auszusprechen, deutlich, genau, ohne Schwanken! Oh, ich bin ein Ehrloser!« so schalt er sich immer wieder voll Unwillen und mit der Röte der Scham im Gesicht; »mit welchen Augen werde ich jetzt mein ganzes Leben lang diesen Menschen ansehen! Oh, was ist das für ein Tag! O Gott, welch ein beklemmendes Gefühl!«
Am Ende dieses langen, qualvollen Weges von der Peterburgskaja gab es einen Augenblick, wo den Fürsten auf einmal ein unbezwingliches Verlangen ergriff, sofort nach Rogoschins Wohnung zu gehen, ihn dort zu erwarten, ihn voller Scham mit Tränen zu umarmen, ihm alles zu sagen und die ganze Sache mit einemmal zu Ende zu bringen. Aber er stand schon vor seinem Gasthof ... Wie sehr hatte ihm heute früh auf den ersten Blick dieser Gasthof mißfallen, diese Korridore, dieses ganze Haus, seine eigenen Zimmer; mehrmals im Laufe des Tages hatte er sich mit besonderem Widerwillen daran erinnert, daß er wieder dahin zurückkehren müsse ... »Aber was ist denn nur mit mir? Ich glaube ja heute wie ein krankes Weib an jede Ahnung!« dachte er nervös und spöttisch, während er im Tor stehenblieb. An eines der Vorkommnisse dieses Tages erinnerte er sich jetzt ganz besonders; aber er tat dies »kaltblütig«, »mit klarem Urteil« und »ohne Beklemmung«. Es fiel ihm plötzlich das Messer ein, das vorhin bei Rogoschin auf dem Tisch gelegen hatte. »Aber warum sollte eigentlich Rogoschin auf seinem Tisch nicht so viele Messer liegen haben, als ihm irgend beliebt?« sagte er, verwundert über sich selbst; und starr vor Staunen erinnerte er sich plötzlich daran, wie er vorhin vor dem Laden des Messerschmiedes stehengeblieben war. »Aber was kann denn da für ein Zusammenhang bestehen!« wollte er ausrufen, sprach aber diesen Gedanken nicht bis zu Ende aus. Ein neuer, unerträglicher Anfall von Schamgefühl, ja fast von Verzweiflung hielt ihn auf seinem Platz, dicht beim Eingang in den Torweg, festgebannt. Er blieb einen Augenblick stehen. Das ist eine nicht seltene Erscheinung: durch unerträgliche, plötzliche Erinnerungen, besonders wenn sie mit dem Gefühl der Scham verknüpft sind, werden die Menschen gezwungen, einen Augenblick auf demselben Fleck stehenzubleiben. »Ja, ich bin ein herzloser Mensch und ein Feigling!« sagte er sich mit düsterer Miene und setzte sich mit einem plötzlichen Ruck wieder in Bewegung, um weiterzugehen; aber ... er blieb von neuem stehen.
In diesem ohnehin schon dunklen Torweg war es jetzt ganz finster; die heraufgezogene Gewitterwolke hatte die Abendhelle verschlungen, und gerade zu der Zeit, wo der Fürst sich dem Haus näherte, öffnete sich die Wolke auf einmal und schüttete ihren Regen herab. In dem Augenblick, als der Fürst nach dem kurzen Stehenbleiben sich ruckartig wieder in Bewegung setzte, befand er sich am Anfang des Torwegs, da, wo man von der Straße aus in den Torweg eintrat. Und plötzlich erblickte er in der Tiefe des Durchgangs im Halbdunkel, da, wo es die Treppe hinaufging, einen Menschen. Dieser Mensch schien auf etwas zu warten, huschte aber schnell davon und war verschwunden. Diesen Menschen hatte der Fürst nicht deutlich sehen können und hätte schlechterdings nicht mit Sicherheit sagen können, wer es gewesen war. Zudem kamen hier so viele Menschen vorbei; es war eben ein Gasthaus, und auf den Korridoren war ein ewiges Kommen und Gehen. Aber er fühlte auf einmal die volle und unwiderlegliche Überzeugung, daß er diesen Menschen erkannt habe, und daß dieser Mensch bestimmt Rogoschin war. Einen Augenblick darauf eilte der Fürst ihm nach, die Treppe hinauf. Das Herz stand ihm still. »Jetzt wird sich sogleich alles entscheiden!« sagte er bei sich mit seltsamer Sicherheit.
Die Treppe, die der Fürst vom Torweg aus hinauflief, führte zu den Korridoren des ersten und zweiten Stockwerks, an denen die Zimmer der Hotelgäste lagen. Diese Treppe war, wie in allen alten Häusern, von Stein, dunkel, eng und wand sich um eine dicke, steinerne Säule herum. Auf dem ersten Absatz befand sich in dieser Säule eine nischenartige Vertiefung, nicht mehr als einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Ein Mensch konnte jedoch darin Platz finden. Wie dunkel es auch war, so unterschied der Fürst doch sogleich, als er den Absatz erreichte, daß sich hier in dieser Nische ein Mensch versteckt hatte. In dem Fürsten wurde plötzlich der Wunsch rege, vorbeizugehen und nicht nach rechts zu blicken. Er tat noch einen Schritt, konnte sich aber doch nicht beherrschen und wandte sich um.
Die zwei Augen von vorhin, eben dieselben Augen, begegneten auf einmal seinem Blick. Der Mensch, der in der Nische verborgen gewesen war, war inzwischen ebenfalls einen Schritt aus ihr herausgetreten. Eine Sekunde lang standen die beiden einander ganz dicht gegenüber. Plötzlich faßte der Fürst den andern an den Schultern und drehte ihn um, nach der Treppe zu, mehr nach dem Licht hin: er wollte sein Gesicht deutlicher sehen.
Rogoschins Augen funkelten auf, und ein wahnsinniges Lächeln entstellte sein Gesicht. Seine rechte Hand fuhr in die Höhe, und es blitzte etwas in ihr; dem Fürsten kam es nicht in den Sinn, sie aufzuhalten. Er erinnerte sich später nur, daß er gerufen hatte:
»Parfen, ich kann es nicht glauben ...!«
Dann war es, als ob sich auf einmal etwas vor ihm öffnete: ein ungewöhnliches, inneres Licht erhellte seine Seele. Dies dauerte vielleicht eine halbe Sekunde; aber er erinnerte sich doch deutlich und bewußt an den Anfang, an den ersten Laut eines furchtbaren Schreis, der sich von selbst seiner Brust entrang, und den er mit keiner Anstrengung hätte zurückhalten können. Dann erlosch sein Bewußtsein, und es trat völlige Finsternis ein.
Er hatte einen epileptischen Anfall bekommen, nachdem diese Krankheit ihn schon so lange Zeit nicht mehr heimgesucht hatte. Bekanntlich treten die epileptischen Anfälle, namentlich soweit dabei das Hinstürzen selbst in Frage kommt, ganz plötzlich ein. In dem Augenblick, wo sie eintreten, verzerrt sich auf einmal das Gesicht außerordentlich, und besonders wird der Blick entstellt. Krämpfe und Zuckungen ergreifen den ganzen Körper und alle Gesichtsmuskeln. Ein furchtbarer, unbeschreiblicher und mit nichts zu vergleichender Schrei ringt sich aus der Brust; in diesem Schrei verschwindet sozusagen alles Menschliche, und es ist für einen Beobachter unmöglich oder wenigstens sehr schwer, sich vorzustellen und zu glauben, daß derjenige, der da schreit, wirklich eben dieser Mensch ist. Man kann sich dabei sogar einbilden, daß da ein anderer schreie, der sich im Innern dieses Menschen befinde. Wenigstens haben viele den empfangenen Eindruck so geschildert; bei vielen ruft der Anblick eines Menschen, der einen epileptischen Anfall durchmacht, ein unerträgliches Entsetzen hervor, das sogar etwas Mystisches an sich hat. Es läßt sich annehmen, daß ein solches Gefühl plötzlichen Entsetzens, im Verein mit allen andern schrecklichen Empfindungen dieses Augenblicks, Rogoschin plötzlich auf dem Fleck erstarren ließ und dadurch den Fürsten vor dem sonst unvermeidlichen Stoß des bereits auf ihn herabfahrenden Messers rettete. Als dann Rogoschin sah, daß der Fürst von ihm zurücktaumelte und plötzlich hintenüberfiel, gerade die Treppe hinunter, wobei er aus voller Wucht mit dem Hinterkopf gegen eine Steinstufe schlug, da eilte er, ehe er noch Zeit gefunden hatte, über den Anfall ins klare zu kommen, spornstreichs nach unten, lief um den Daliegenden herum und rannte fast ohne Besinnung aus dem Gasthaus hinaus.
Infolge der Krämpfe, der Zuckungen und des Umsichschlagens rutschte der Körper des Kranken die Stufen hinab, deren nicht mehr als fünfzehn waren, bis ganz zum Fuß der Treppe. Sehr bald, kaum fünf Minuten nachher, wurde der Daliegende bemerkt, und es sammelte sich um ihn eine Menge Menschen. Die große Blutlache, die sich um den Kopf gebildet hatte, erweckte Zweifel, ob dieser Mensch sich selbst zerschlagen habe oder ein Verbrechen vorliege. Bald jedoch durchschauten einige, daß es ein Fall von Epilepsie war, und einer der Kellner erkannte in dem Fürsten einen kürzlich eingetroffenen Gast. Die Aufregung kam endlich infolge eines sehr glücklichen Umstandes zur Ruhe.
Kolja Iwolgin, der in der »Waage« hinterlassen hatte, er werde um vier Uhr zurück sein, und statt dessen nach Pawlowsk gefahren war, hatte es infolge einer Überlegung, die ihm plötzlich gekommen war, abgelehnt, bei der Generalin Jepantschina zu speisen, war nach Petersburg zurückgefahren und nach der »Waage« geeilt, wo er gegen sieben Uhr abends eintraf. Nachdem er aus dem für ihn hinterlassenen Billett ersehen hatte, daß der Fürst sich in der Stadt befand, eilte er mit Benutzung der ihm in dem Billett mitgeteilten Adresse zu ihm. Als er in dem Gasthaus erfuhr, daß der Fürst ausgegangen sei, ging er nach unten in die Restaurationsräume, um dort zu warten, ließ sich Tee geben und hörte dem Spiel des Orchestrions zu. Zufällig hörte er ein Gespräch