Landhaus bis zu dem Lebedjewschen waren nur dreihundert Schritte. Der erste unangenehme Eindruck, den Lisaweta Prokofjewna beim Fürsten empfing, wurde dadurch hervor gerufen, daß sie eine ganze Gesellschaft um ihn versammelt fand, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß ihr in dieser Gesellschaft zwei oder drei Personen entschieden zuwider waren; und zweitens war sie unangenehm erstaunt, als ihnen, statt eines Verscheidenden auf dem Sterbebett, den sie zu finden erwartet hatte, ein anscheinend völlig gesunder, elegant gekleideter junger Mann mit lächelnder Miene entgegentrat. Sie blieb ganz verwundert stehen, zum größten Vergnügen Koljas, der ihr natürlich, noch ehe sie von ihrem Landhaus aufbrach, sehr wohl hätte mitteilen können, daß niemand im Verscheiden liege und von einem Sterbebett nicht die Rede sei, dies aber absichtlich unterlassen hatte in schlauer Voraussicht des komischen Zornes der Generalin, die nach seiner psychologischen Spekulation sich jedenfalls darüber ärgern würde, wenn sie den Fürsten, dem sie herzlich zugetan war, gesund anträfe. Kolja war sogar so taktlos, seine Vermutung laut auszusprechen, um Lisaweta Prokofjewna noch mehr zu reizen, mit der er sich trotz der zwischen ihnen bestehenden Freundschaft beständig und manchmal in recht scharfer Form neckte.
»Warte nur, lieber Freund, krähe nicht zu früh!« antwortete Lisaweta Prokofjewna und setzte sich auf den Lehnstuhl, den ihr der Fürst zurechtrückte.
Lebedjew, Ptizyn und General Iwolgin beeilten sich, den jungen Damen Stühle zu bringen. Aglaja wurde vom General zum Sitzen eingeladen. Lebedjew stellte auch dem Fürsten Schtsch. einen Stuhl hin, wobei er es fertigbrachte, durch die Krümmung seines Rückens eine außerordentliche Ehrerbietung auszudrücken. Warja begrüßte die jungen Damen mit dem gewöhnlichen Entzücken im Flüsterton.
»Ich hatte allerdings geglaubt, dich im Bett zu finden, Fürst; so schwarzseherisch hatte mich die Angst gemacht; und ich leugne keineswegs, daß ich mich soeben furchtbar über dein glückliches Gesicht ärgerte; aber ich schwöre dir, das dauerte nur einen Augenblick, nur so lange, als ich noch nicht nachgedacht hatte. Sobald ich nachgedacht habe, handle und rede ich immer verständiger; ich denke, es wird dir ebenso gehen. In Wirklichkeit aber könnte ich mich über die Genesung meines eigenen Sohnes, wenn ich einen hätte, kaum so freuen wie über die deinige; und wenn du es mir nicht glaubst, so ist das eine Schande für dich, nicht für mich. Dieser unartige Junge aber erlaubt sich mit mir ganz ungehörige Späße. Du bist ja wohl sein Gönner; darum möchte ich dir ankündigen, daß ich eines schönen Tages auf die Ehre und das Vergnügen seiner weiteren Bekanntschaft verzichten werde; das kannst du mir glauben.«
»Was trifft mich denn für Schuld?« rief Kolja. »Wenn ich Ihnen auch hoch und heilig beteuert hätte, daß der Fürst schon beinah gesund sei, so hätten Sie mir doch nicht glauben mögen, weil es viel interessanter war, ihn sich auf dem Sterbebett vorzustellen.«
»Bleibst du lange hier bei uns in Pawlowsk?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an den Fürsten.
»Den ganzen Sommer über und vielleicht noch länger.«
»Du bist allein hier. Bist du denn nicht verheiratet?«
»Nein, ich bin nicht verheiratet«, erwiderte der Fürst, der über die Naivität dieser gegen ihn gerichteten Stichelei lächeln mußte.
»Zum Lächeln ist kein Anlaß; so etwas kommt doch vor. Ich sagte es aber wegen des Landhauses; warum bist du denn nicht zu uns gezogen? Wir haben ein ganzes Nebengebäude leerstehen. Übrigens, ganz wie du willst. Wohnst du denn hier als Untermieter? Bei dem hier?« fügte sie halblaut hinzu, indem sie mit einer Kopfbewegung auf Lebedjew hindeutete. »Warum schneidet er denn fortwährend Gesichter?«
In diesem Augenblick kam Wjera, wie gewöhnlich mit dem Kind auf dem Arm, aus dem Innern des Hauses auf die Veranda.
Lebedjew, der sich bei den Stühlen umherwand und schlechterdings nicht wußte, wo er bleiben sollte, aber durchaus nicht weggehen wollte, stürzte plötzlich auf Wjera los und wollte sie mit heftigen Armbewegungen aus der Veranda hinausjagen; er vergaß sich sogar so weit, daß er mit den Füßen trampelte.
»Ist er verrückt?« fügte die Generalin hinzu.
»Nein, er ...«
»Vielleicht ist er betrunken? Deine Gesellschaft hier ist nicht schön«, sagte sie in entschiedenem Ton, indem sie auch die übrigen Gäste mit ihrem Blick umfaßte. »Ah, aber was für ein liebliches Mädchen! Wer ist das?«
»Das ist Wjera Lukjanowna, eine Tochter dieses Herrn Lebedjew.«
»Ah ...! Ein sehr liebliches Mädchen. Ich möchte ihre Bekanntschaft machen.«
Lebedjew aber, der Lisaweta Prokofjewnas lobendes Urteil gehört hatte, zog bereits selbst seine Tochter herbei, um sie vorzustellen.
»Meine Kinder sind mutterlos, mutterlos!« jammerte er, während er herankam. »Auch dieses Kind, das sie auf dem Arm hat, ist mutterlos; es ist ihre Schwester, meine Tochter Ljubow, in rechtmäßiger Ehe von meiner unlängst verstorbenen Frau Jelena geboren, die vor sechs Wochen nach Gottes Willen im Wochenbett gestorben ist ... ja ... Sie vertritt an ihr Mutterstelle, obgleich sie nur ihre Schwester ist, nichts weiter als ihre Schwester ... nichts weiter, nichts weiter ...«
»Und du, lieber Freund, bist nichts weiter als ein Dummkopf, nimm mir's nicht übel. Na, nun genug; jetzt wirst du es wohl selbst wissen, denke ich«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna sehr ungehalten.
»Vollkommen richtig!« erwiderte Lebedjew sehr respektvoll mit einer tiefen Verbeugung.
»Hören Sie mal, Herr Lebedjew, ist das wahr, was man von Ihnen sagt: Sie legen die Offenbarung des Johannes aus?« fragte Aglaja.
»Vollkommen wahr! Ich beschäftige mich damit seit fünfzehn Jahren.«
»Ich habe von Ihnen gehört. Es hat ja wohl auch in der Zeitung etwas über Sie gestanden?«
»Nein, das bezog sich auf einen andern Erklärer, auf einen andern; der ist gestorben, und ich bin jetzt sein Nachfolger«, versetzte Lebedjew, ganz außer sich vor Freude.
»Tun Sie mir den Gefallen und erklären Sie sie mir einmal in diesen Tagen als guter Nachbar. Ich verstehe von der Offenbarung nichts.«
»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Aglaja Iwanowna, daß das von ihm nur Scharlatanerie ist; glauben Sie mir!« mischte sich General Iwolgin schnell in das Gespräch hinein, der schon wie auf Kohlen gesessen und auf das lebhafteste gewünscht hatte, irgendwie eine Unterhaltung anzuknüpfen; er setzte sich bei diesen Worten neben Aglaja Iwanowna. »Gewiß«, fuhr er fort, »der Aufenthalt auf dem Land hat ja seine besonderen Reize und seine besonderen Vergnügungen, und der Verkehr mit jemandem, der es so keck unternimmt, die Offenbarung zu erklären, ist ein Amüsement wie jedes andere und sogar ein solches, das in interessanter Weise den Verstand in Anspruch nimmt; aber ich ... Sie scheinen mich erstaunt anzusehen? Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: General Iwolgin. Ich habe Sie auf den Armen getragen, Aglaja Iwanowna.«
»Sehr erfreut. Ich bin mit Warwara Ardalionowna und mit Nina Alexandrowna bekannt«, murmelte Aglaja, die sich die größte Mühe gab, nicht loszulachen.
Lisaweta Prokofjewna wurde dunkelrot. Der Ärger, der sich schon lange in ihrer Seele angesammelt hatte, verlangte auf einmal dringend nach einem Ausweg. Sie konnte den General Iwolgin nicht leiden, mit dem sie früher einmal, vor sehr langer Zeit, bekannt gewesen war. »Du lügst, Väterchen, wie das deine Gewohnheit ist; du hast sie nie auf den Armen getragen«, sagte sie zu ihm scharf und unwillig.
»Sie haben es vergessen, Mama; er hat mich wirklich auf den Armen getragen«, bestätigte Aglaja plötzlich die Angabe des Generals. »Wir wohnten damals in Twer. Ich war sechs Jahre alt; ich erinnere mich an alles noch recht wohl. Er machte mir einen Bogen und einen Pfeil und lehrte mich damit schießen, und ich schoß eine Taube tot. Erinnern Sie sich, daß wir beide zusammen eine Taube totgeschossen haben?«
»Und mir brachte er damals einen Helm aus Pappe und einen hölzernen Degen; das weiß ich noch!« rief Adelaida.
»Auch ich erinnere mich daran«, fügte Alexandra bekräftigend hinzu. »Ihr zanktet euch damals noch wegen der verwundeten