Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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bewußt ist? Und seine Erzählung von vorhin? Nein, das ist ein tieferes Gefühl als eine bloße Leidenschaft. Und flößt denn ihr Gesicht nur Leidenschaft ein? Und kann dieses Gesicht jetzt überhaupt Leidenschaft einflößen? Es erweckt Schmerz; es ergreift die ganze Seele; es ... Eine brennende, qualvolle Erinnerung zog dem Fürsten plötzlich das Herz zusammen.

      Ja, eine qualvolle Erinnerung! Er erinnerte sich daran, welche Qual es kürzlich für ihn gewesen war, als er zum erstenmal an ihr Anzeichen einer geistigen Störung wahrgenommen hatte. Er war damals beinah in Verzweiflung geraten. Und wie hatte er sie nur allein weglassen können, als sie damals von ihm zu Rogoschin geflüchtet war! Er hätte ihr selbst nacheilen müssen, statt nur auf Nachrichten zu warten. Aber ... hat denn Rogoschin an ihr bisher noch nichts von geistiger Störung bemerkt? Hm ...! Rogoschin sieht in allem andere Ursachen, vermutet als Ursachen immer Leidenschaften! Und was für eine sinnlose Eifersucht! Was wollte er vorhin mit seiner Annahme sagen?

      (Der Fürst errötete plötzlich, und sein Herz zuckte zusammen.)

      Aber welchen Zweck hatte es, sich an all dies zu erinnern? Sie waren beide so gut wie irrsinnig, er und Rogoschin. Aber für ihn, den Fürsten, wäre es beinah ein Ding der Unmöglichkeit, diese Frau leidenschaftlich zu lieben; es wäre beinah eine Grausamkeit, eine Unmenschlichkeit. Ja, ja! Nein, Rogoschin verleumdet sich selbst; er hat ein großes Herz, das leiden und Mitleid empfinden kann. Wenn er die ganze Wahrheit erkennt und sich überzeugt, was für ein bemitleidenswertes Geschöpf diese schwer geschädigte, halbirre Frau ist, wird er ihr dann nicht alles Vergangene, alle seine Qualen verzeihen? Wird er nicht ihr Diener, ihr Bruder, ihr Freund, ihre Vorsehung werden? Das Mitleid wird ihn zur Einsicht bringen, ihn belehren. Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit. Oh, in welcher unverzeihlichen, ehrlosen Weise hat er sich Rogoschin gegenüber schuldig gemacht! Nein, nicht die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, sondern in seiner eigenen Seele muß ein dunkles Rätsel sein, wenn er sich etwas so Schreckliches vorstellen kann. Wegen einiger warmen, herzlichen Worte in Moskau nennt ihn Rogoschin schon seinen Bruder, und er ... Aber das war alles Krankheit und Fieber! Das wird sich alles lösen ...! Wie finster hat Rogoschin vorhin gesagt, daß er seinen Glauben verliere! Dieser Mensch leidet gewiß furchtbar. Er sagt, er betrachte dieses Bild gern; aber gern tut er es wohl nicht, sondern er empfindet ein Bedürfnis danach. Rogoschin ist nicht nur eine leidenschaftliche Natur; er ist auch ein Kämpfer: er will seinen verlorenen Glauben mit Gewalt wiedergewinnen. Er bedarf dieses Glaubens jetzt dringend und vermißt ihn qualvoll ... Ja, nur an etwas glauben! Nur an jemand glauben! Aber wie seltsam doch dieses Holbeinsche Bild ist ... Ah, da ist ja die Straße! Und da ist gewiß auch das Haus; ja, es stimmt, Nr. 16, »Haus der Kollegiensekretärin Filisowa«. Hier! Der Fürst klingelte und fragte nach Nastasja Filippowna.

      Die Hauswirtin, die selbst geöffnet hatte, antwortete ihm, Nastasja Filippowna sei schon am Morgen nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna gefahren, und es könne sogar sein, daß sie einige Tage dort bleibe. Frau Filisowa war eine kleine Person mit scharfen Augen und spitzem Gesicht, etwa vierzig Jahre alt; sie blickte ihn schlau und prüfend an. Auf ihre Frage nach seinem Namen, die sie absichtlich in geheimnisvollem Ton stellte, wollte ihr der Fürst zuerst keine Antwort geben; aber er drehte sich dann doch sofort wieder um und bat sie angelegentlich um Mitteilung seines Namens an Nastasja Filippowna. Frau Filisowa nahm dieses dringende Verlangen mit gesteigerter Aufmerksamkeit und außerordentlich diskreter Miene entgegen, wodurch sie offenbar zum Ausdruck bringen wollte: »Seien Sie unbesorgt; ich weiß Bescheid!« Der Name des Fürsten machte auf sie augenscheinlich einen sehr starken Eindruck. Der Fürst blickte sie zerstreut an, wendete sich um und machte sich auf den Rückweg nach seinem Gasthaus. Aber er bot beim Hinausgehen nicht mehr dasselbe Bild wie in dem Augenblick, als er bei Frau Filisowa geklingelt hatte. Es war mit ihm wieder, und zwar ganz plötzlich, eine sehr große Veränderung vorgegangen: er war wieder blaß und schwach geworden, befand sich in starker Aufregung und schritt wie ein schwer Leidender einher; die Knie zitterten ihm, und ein mattes, verlorenes Lächeln spielte um seine bläulich gewordenen Lippen: sein »plötzlicher Gedanke« hatte seine Bestätigung gefunden und sich als richtig erwiesen, und – er glaubte wieder an seinen Dämon!

      Aber hatte er seine Bestätigung gefunden? Hatte er sich als richtig erwiesen? Wodurch war bei ihm wieder dieses Zittern hervorgerufen, dieser kalte Schweiß, diese seelische Finsternis und Kälte? Dadurch, daß er soeben wieder diese »Augen« gesehen hatte? Aber er war ja aus dem Sommergarten einzig und allein in der Absicht dorthin gegangen, sie wiederzusehen! Darin hatte ja sein »plötzlicher Gedanke« bestanden. Er hatte ein dringendes Verlangen verspürt, diese »Augen von vorhin« wiederzusehen und festzustellen, ob er ihnen dort, bei diesem Haus, wiederbegegnen werde. Das war ein krampfhaftes Verlangen bei ihm gewesen; warum war er also jetzt so bestürzt und niedergeschlagen darüber, daß er sie wirklich soeben gesehen hatte? Als ob er es nicht hätte erwartet gehabt! Ja, das waren eben dieselben Augen (und daran, daß es eben dieselben waren, konnte jetzt nicht mehr der geringste Zweifel bestehen), die ihn am Morgen aus der Menschenmenge angefunkelt hatten, als er aus dem Waggon der Nikolai-Bahn ausgestiegen war; dieselben (ganz dieselben!), deren auf ihn von hinten her gerichteten Blick er nachher aufgefangen hatte, als er sich in Rogoschins Wohnung auf einen Stuhl setzte. Rogoschin hatte es vorhin abgestritten: »Wessen Augen waren denn das?« hatte er mit einem verzerrten, eisigen Lächeln gefragt. Und noch vorhin auf dem Zarskojeseloer Bahnhof, als er in den Waggon stieg, um zu Aglaja zu fahren, und auf einmal wieder, schon zum drittenmal an diesem Tag, diese Augen erblickte, hatte der Fürst die größte Lust gehabt, zu Rogoschin heranzutreten und ihm zu sagen, »wessen Augen es gewesen seien!« Aber er war aus dem Bahnhof weggelaufen und erst vor dem Laden eines Messerschmiedes wieder zur Besinnung gekommen, in dem Augenblick, als er dort stand und einen Gegenstand mit einem Hirschhorngriff auf sechzig Kopeken taxierte. Ein seltsamer, schrecklicher Dämon hatte ihn endgültig gepackt und wollte ihn nicht mehr loslassen. Dieser Dämon hatte ihm im Sommergarten, als er selbstvergessen unter einer Linde saß, zugeflüstert: wenn Rogoschin es für so nötig halte, ihn vom frühen Morgen an zu verfolgen und auf Schritt und Tritt zu beobachten, so werde er, nun er gesehen habe, daß der Fürst nicht nach Pawlowsk fahre (was natürlich für Rogoschin eine Erkenntnis von ausschlaggebender Bedeutung war), jedenfalls »dorthin« gehen, zu jenem Haus in der Peterburgskaja, und ihm, dem Fürsten, auflauern, der ihm noch am Morgen sein Ehrenwort darauf gegeben habe, daß er sie nicht aufsuchen wolle, und daß er nicht zu diesem Zweck nach Petersburg gekommen sei. Und nun hatte es den Fürsten krampfhaft nach jenem Haus hingezogen; was war nun Auffälliges dabei, daß er tatsächlich dort Rogoschin getroffen hatte? Er hatte nur einen unglücklichen Menschen gesehen, dessen Seelenstimmung düster, aber sehr begreiflich war. Dieser unglückliche Mensch suchte sich jetzt auch gar nicht mehr zu verbergen. Ja, Rogoschin hatte es vorhin in seiner Wohnung aus irgendeinem Grund abgestritten und geleugnet; aber auf dem Zarskojeseloer Bahnhof hatte er, fast ohne sich verstecken zu wollen, dagestanden. Derjenige, der sich verbarg, hatte dort eher der Fürst zu sein geschienen als Rogoschin. Aber jetzt bei dem Haus hatte er auf der andern Seite der Straße schräg gegenüber in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten mit verschränkten Armen auf dem Trottoir gestanden und gewartet. Hier war er schon vollständig sichtbar gewesen und hatte dies anscheinend auch absichtlich gewollt. Er hatte dagestanden wie ein Ankläger und wie ein Richter, und nicht wie ... Ja, nicht wie wer?

      Aber warum war denn er, der Fürst, jetzt nicht selbst an ihn herangegangen, sondern hatte sich von ihm abgewandt, wie wenn er nichts bemerkt hätte, obwohl doch ihre Blicke einander begegnet waren? (Ja, ihre Blicke waren einander begegnet, und sie hatten sich wechselseitig angesehen.) Er hatte ja selbst vorhin beabsichtigt, ihn bei der Hand zu nehmen und mit ihm zusammen »dorthin« zu gehen. Er hatte ja selbst morgen zu ihm gehen und ihm sagen wollen, daß er bei ihr gewesen sei. Er hatte sich ja, während er noch dorthin ging, auf der Hälfte des Weges, als auf einmal die Freude seine Seele erfüllte, selbst von seinem Dämon losgemacht. Oder lag in Rogoschin, das heißt in der ganzen heutigen Erscheinung dieses Menschen, in der Gesamtheit seiner Worte, Bewegungen, Handlungen und Blicke, wirklich etwas, was die schrecklichen Ahnungen des Fürsten und die aufregenden Einflüsterungen seines Dämons rechtfertigen konnte? Etwas, was sich von selbst dem Auge aufdrängt, aber schwer oder unmöglich zu definieren und darzulegen und mit hinreichenden Gründen zu beweisen ist, aber doch trotz all dieser Schwierigkeit und Unmöglichkeit einen starken,