Birgit Theisen

Herr Spiro


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der ihn mit Mitte zwanzig nach dem Durchblättern eines Reisekatalogs einmal gefragt hatte: Welches Paradies? Das Paradies ist doch da, wo ich jetzt bin.

      Robert wurde schlagartig klar, dass er Kais letzten Wunsch nie erfüllen konnte. Er sah die Welt nicht so, weil sie es nicht war! Kai war ein unverbesserlicher Träumer gewesen.

      Robert stand auf, ging zum Sekretär und griff nach einem Blatt Büttenpapier und dem Füller.

      Mein lieber Kai, …

      Das klappte. Robert brauchte nicht lang für seinen Brief. Einmal gefaltet, steckte er ihn in die Jackentasche und machte sich auf den Weg.

      Kühlschrank und Gefriertruhe hatten am Wochenende ihr Letztes gegeben, Kaffee war auch keiner mehr da. Trotzdem hatte es Anna Wehner nicht zuerst in den Supermarkt, sondern hierher gezogen.

      Sie lief schneller als sonst über den Kiesweg. Das Knirschen unter ihren Sohlen sollte sich auf keinen Fall so anhören, als würde sie gerade hinter einem Sarg hergehen.

      Der Wind wehte scharf und die feuchte Kälte kroch ihr schnell unter den Mantel, sie steckte ihre Hände noch tiefer in die Taschen.

      Dann sah sie sah, den Mann in Schwarz, der mit hängendem Kopf auf ihre Bank am Weiher zusteuerte. Ja, auf der hatte sie zusammengerechnet schon so viele Stunden verbracht!

      Er kam aus einem der Seitenwege, die sie auch gut kannte. An dieser Reihe war sie oft vorübergegangen und längst hatte sie sich zu den Zahlen auf den Grabsteinen Schicksale ausgemalt. Die Beiden, die sie am ehesten als ihre Gefährten bezeichnet hätte, lagen auf dem dritten Platz, waren ungefähr so alt wie sie, und einer von ihnen hatte drei Monate länger durchgehalten als der andere. Obwohl auf dem Stein zwei verschiedene Nachnamen eingemeißelt waren, lag es für Anna auf der Hand, dass Kai und Beatrice im Leben zusammengehört haben mussten.

      Der Mann ließ sich auf die Bank fallen, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und vergrub sein vollbärtiges Gesicht in den Händen.

      Ja, dachte Anna, mit seiner Trauer ist man vor allem eines: allein. Und die meisten wollen es auch sein.

      Anna überlegte, dass sie sich wahrscheinlich dazugesetzt hätte, wenn dieser Mann auf der Bank eine Frau gewesen wäre. Der Gedanke fühlte sich so unmenschlich an, dass sie sich schäbig vorkam, als sie an ihm vorbeiging. Doch dann spürte sie eine Böe im Rücken und alles war gut.

      Nach ihrer Runde um den Weiher sah sie ihn wieder. Er ging in melancholischer Geschwindigkeit den Hauptweg entlang in Richtung Portal. Sie selbst hatte genug vom Wind und nahm die Abkürzung zum Ostausgang.

      Am Grab der Gefährten lag ein gefaltetes Blatt Papier unter der Blumenschale. Da schrieb offenbar jemand Briefe und trug sie hierher. So weit war Anna nie gegangen, der Mann von vorhin etwa schon?

      Sie hatte ihre Patentante im Ohr: Mach das Leid der anderen nicht zu deinem. Schau lieber, dass du es linderst!

      Annas Herz beschleunigte. Was, wenn in diesem Brief etwas stünde, womit sie dem Mann helfen könnte?

      Es war ein Impuls, sie konnte nichts dagegen tun, hier war jetzt Eile geboten und keine Zeit für Ungewissheit oder Rücksicht auf das Briefgeheimnis.

      Sie zog das Blatt kurz und schmerzlos unter der Schale hervor und faltete es auseinander. Vorder- und Rückseite waren eng beschrieben. Das war kein billiges, sondern gutes, dickes Papier und eine schöne Handschrift, die nur mit einem schwarzen Füllfederhalter so zur Geltung kommen konnte.

      Mein lieber Kai, stand da. Der lag im Grab vor ihr.

      Anna las weiter.

      Du bist zwar schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr da, aber ich könnte immer noch jeden Tag mindestens drei Mal zum Telefon greifen, Dir irgendeinen Mist erzählen oder Dich fragen, ob Du abends auch ins Training gehst oder bei Paula noch ein Bier trinkst oder, oder, oder. Sie vermisst Dich, hat sie gesagt, ich soll Dich von ihr grüßen, wenn ich Dich besuche. Mache ich hiermit.

      Eigentlich müsste ich stocksauer auf Dich sein, dass Du einfach so gegangen bist, das weißt Du. Und ich weiß, dass ich denken soll, wie gut Du es jetzt mit Bea hast. Aber so sehr ich es mir für Euch wünsche, ich glaube nicht daran, es klappt nicht.

      Und das, was Du Dir mit Deinem Herrn Spiro vorgestellt hast, das klappt auch nicht. Erstens kann ich nicht so gut schreiben wie Du und zweitens bräuchte ich ein Bild von dem Mann. Hättest Du mir nicht wenigstens ein Phantombild hinterlassen können? Irgendeine Beschreibung. Es ist, als müsste ich jemanden zur Bildfahndung ausschreiben, von dem ich nicht den Funken einer Ahnung habe, wie er überhaupt aussieht. Das geht nicht! Das geht einfach nicht. Glaub mir bitte, dass ich es versucht habe.

      Außerdem müsste ich wissen, wie Dein Held wohnt. Wir würden doch nur aneinander vorbeischreiben, wenn die Stube, die ich mir vorstelle, eine andere ist als die, die Du Dir für ihn vorstellst! Und dann die Lampe, um die sich alles dreht. Wie soll ich jetzt noch herausfinden, wie groß sie ist und warum sie in Deinen Augen so schön ist? Und was noch viel schwerer wiegt ist doch, dass Du mir nicht verraten hast, wie Herr Spiro denkt.

      Kurz gesagt: Warum hast Du das alles so abstrakt gelassen? Warum lässt Du mich im Dunkeln stehen und verlangst dann auch noch solche Dinge von mir?

      Ich verstehe Dich nicht. Und auch wenn ich mich wiederhole: Das geht so nicht. Wenn Du noch da wärst, würde ich Dir jetzt Deine Geschichte zurückgeben. Einer wie ich kann Dir da nicht weiterhelfen. Auch wenn es mir unendlich leid tut. Für Herrn Spiro und noch viel mehr für Dich.

      Ja, ich weiß, was Du geschrieben hast. Ich soll nicht heulen. Tu ich auch nicht.

      Anna sah dem Papier an, dass es gelogen war. Sie drehte das Blatt um.

      Ich fahre jetzt für ein paar Tage ans Meer, aber nur, weil ich schon lange gebucht habe. Aus der Nummer komme ich jetzt nicht mehr raus und es stimmt ja auch: Daheim würde ich doch nur verrückt werden, wenn ich zwei Wochen auf meinen neuen Schreibtisch drüben bei den anderen warten müsste.

      Mit Deiner Erlaubnis werde ich Herrn Spiro einpacken und ihn in einer Flasche den Wellen übergeben. Vielleicht findet ihn irgendwann irgendjemand und schreibt weiter. Dann hättest Du wenigstens auf dem Wege das erreicht, wozu ich nicht imstande bin. Es tut mir leid, dass ich Dich so enttäuschen muss, aber es geht nicht anders.

      Die Dinge, die sich auf meinen Schultern angesammelt haben, sind so schwer, dass ich nicht mehr weitergehen kann. Ich muss aber, auch ohne Dich, und ich hoffe daher, Du bist mit meinem Vorgehen einverstanden. Nein, anders: Ich glaube zu wissen, dass Du einverstanden bist.

      Sei mir nicht böse. Bitte.

      Für immer

      Dein Robert

      Wenn der Mann von vorhin dieser Robert war, hätte Anna ihm vermutlich helfen können.

      Hätte. Es war zu spät.

      Anna sah ihn nicht mehr, und als sie den Brief in ihrer Hand betrachtete, meldete sich ihr Gewissen. Sie faltete das Blatt und legte es zurück.

      Auf dem Weg zum Tor schaute sie sich einige Male um. Sie fühlte sich wie eine Diebin.

      2

      Anna nahm ihre größte Kaffeetasse aus dem Küchenschrank und sah hinüber zu ihrem Schreibtisch. Überall dazwischen lagen Papierkugeln herum. Zerknüllt, nicht zerfetzt, zum Teil mit Schwung fallengelassen, aber nicht wütend gegen die Wand geworfen.

      Ein Fortschritt?, fragte sie sich und kam sich vor wie ihre eigene Therapeutin.

      Aber die Zeichnerei brachte nichts, und Anna sagte sich immer wieder, dass sie damit nur ihre Zeit verschwendete. Ihr Chef wusste, dass sie keine bunten Kinderbücher mehr illustrieren würde. Das hatte sie sich geschworen. Scheingraber gab trotzdem nicht auf, bei ihr anzufragen.

      Anna stellte die Tasse zurück in den Schrank und sammelte die Skizzen ein. Wie sie waren, landeten sie im Müll. Der eine brauchbare Entwurf für die Schulszene wanderte in die Mappe. Einer war zwar hundert Prozent mehr als sonst, machte aber noch