Birgit Theisen

Herr Spiro


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Sie war sicher, dass er sich nicht an sie erinnern konnte.

      Wie auch?

      Aus der Nähe tat er ihr mindestens genauso leid. Wer so schaute, war reif für die Insel. Anna kamen Claras Worte zum Thema Mitleid wieder in den Sinn und dass sie diesem Mann helfen wollte.

      „Glauben Sie eigentlich an Vorsehung?“, fragte sie.

      „Hm“, machte er. „Ich glaube, dass alles so kommt, wie es kommen soll. Ist das dasselbe?“

      „Vielleicht.“

      Am liebsten hätte sie ihm jetzt gesagt, dass sie ihn verstand. Auch das, was er in seinem Brief an Kai geschrieben hatte, und dass sie gern mit ihm darüber reden würde. Aber so einfach ging das nicht. Sie musste anders anfangen.

      Nur wie?

      Ihr fiel nichts ein, er lief schweigend neben ihr her und konzentrierte sich auf die Linien zwischen den Pflastersteinen. Sie kamen zum Musikhaus Horn.

      Vielleicht so?

      Vor der Vitrine blieb Anna stehen. „In so einem Laden wollte ich mal über Nacht eingesperrt werden und alles ausprobieren.“

      Er hielt mit zwei Schritten Verzögerung an. „Aha.“

      „Wahrscheinlich wäre es ein Cello geworden. Weil meine Patentante … meine Güte, ich texte Sie hier zu.“

      „Sie texten mich nicht zu. Ihre Patentante …?“

      „War einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.“ Sie sah wieder ins Schaufenster. „Sie hat Pavarotti geliebt. Kennen Sie …“ Leise summte sie ein paar Töne und hoffte, dass er von alleine auf Nessun dorma kommen würde.

      „Vincerò! Vincerò!“, antwortete er prompt. „Und was hat das mit Cello zu tun?“ Er lächelte.

      „In cielo, habe ich damals verstanden und es hat einige Jahre gedauert, bis ich irgendwo dem Text begegnet bin. Da war dann natürlich überhaupt kein Himmel drin und ich kam mir ziemlich bescheuert vor.“ Sie sah seinen ernsten Blick.

      „Gar nicht. Sie können das von jedem Cellisten hören, dass er ein himmlisches Instrument spielt, wenn Sie ihn fragen.“ Mehr sagte er nicht.

      Sie hätte ihn gerne gefragt, ob er ein Cellist war, dass er das so genau wusste, aber sie traute sich nicht mehr. In der kurzen Zeit hatte sie schon genug geredet. Wahrscheinlich hielt er sie jetzt für eine der einsamen Frauen, die für jedes Wort dankbar waren, das einer an sie richtete.

      Sie kamen am U-Bahn-Abgang an.

      „Wiedersehen“, sagte er und verschwand auf der Rolltreppe in den Untergrund.

      Sie sah dem Mann nach. Ohne Koffer hätte er wahrscheinlich immer zwei Stufen auf einmal genommen, um noch schneller ganz unten anzukommen.

      Der Weißwein, den ihm die kleine, schwarzhaarige Stewardess vorhin im Kunststoffbecher serviert hatte, arbeitete in ihm. Croissants und Nussschnecken waren keine gute Grundlage, das hätte er eigentlich wissen müssen. Aber den Weg vom Hamburger Flughafen zum Bahnhof hatte er noch gefunden und er saß auch im richtigen Zug, in dem nach Stralsund.

      Der letzte Halt war Schwerin gewesen, jetzt stand eine weißhaarige Frau vor Robert im Abteil. Sie ignorierte sämtliche anderen freien Plätze, als hätte sie sich ihn ausgesucht. Wie ein Hund aus dem Tierheim sein neues Herrchen.

      Strample hier nicht im Treibsand rum, verteil lieber dein Gewicht, sagte er sich, gab sich einen Ruck und stand auf. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“

      Die Frau ließ im selben Moment ihren Koffer los. „Junger Mann, das is‘ aber sehr zuvorkommend. Dass es so was noch gibt unter den Menschen …“

      Als er das lederne Gepäckstück mit den abgewetzten Ecken ins Netz wuchtete, dachte er an seine Bandscheiben.

      Was war bloß in dem Koffer? Goldbarren?

      Was, wenn dieses Ding ihm sein Kreuz endgültig ruinierte? Der Dank für seine Pfadfindertat würde ihm ewig nachschleichen, zuallererst zur Krankengymnastik.

      „Besten Dank.“ Die Weißhaarige setzte sich in Fahrtrichtung, Robert gegenüber.

      Sein Rückgrat hatte gehalten.

      „Ich besuche meine Schwägerin, die wird morgen fünfundachtzig“, sagte sie wie zur Eröffnung ihres persönlichen Damenkränzchens. „Und, wissen Sie, im Zug sind die Viererplätze mit Tisch die besten. Da lernt man die Leute kennen!“ Sie sah ihn prüfend an. „Oder man schweigt gemeinsam.“

      Er nickte.

      Sie zog ihre Lesebrille an der Kette aus der Tasche, zückte einen dicken Schmöker, versank darin und schmatzte ihr Bonbon, dessen baldiges Ende sich Robert schon nach zwei Minuten sehnlichst wünschte. Als sie es endlich zerbiss, war es wie eine Erlösung.

      Er schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als die Bonbontüte raschelte. Die Schmatzerei ging von vorne los. Das würde kein Ende nehmen, bis diese Frau ausstieg, so viel war ihm klar.

      Robert überlegte, ob er aufstehen und sich einen Kaffee im Bistro genehmigen sollte. Gab es überhaupt eines in solchen Zügen?

      Er blieb sitzen und schaute aus dem Fenster, vor dem kleine weiße Flocken auf grünbraunem Grund vorbeizogen. Wenn er als Kind Schafherden gesehen hatte, war das Ziel nicht mehr weit gewesen. Inzwischen standen überall Windräder herum, denen man in Bodennähe unterschiedlich grüne Ringe verpasst hatte, in der vergeblichen Hoffnung, dass sie sich dadurch besser ins Landschaftsbild einfügten.

      Die Veränderungen in Roberts Leben ließen sich auch nicht schönfärben, er hatte sie zu akzeptieren.

      Schwamm drüber.

      Das Schicksal war in erster Linie hart zu Kai gewesen, nicht zu ihm. Mehr als Begleitung hatte Robert nicht sein können und damit doch nichts erreicht. Außer, dass sich Fiona in derselben Zeit von einem ihrer Arbeitskollegen hatte schwängern lassen.

      Schluss jetzt, ermahnte er sich, hör auf zu zappeln, sinkst ja doch nur tiefer ein.

      Dieser IC würde ihn jetzt ans Meer bringen. Und wieder daheim würde Robert die Abteilung wechseln, weil er eine junge Frau auf dem Gewissen hatte, die vielleicht zu retten gewesen wäre. Kein Polizeipsychologe der Welt hätte es geschafft, ihm in einem akzeptablen Zeitrahmen das Gegenteil einzureden.

      Die Landschaft zog vor Roberts Blick vorüber, es gab keine Bäume am Bahndamm und er war dankbar dafür. Licht- und Schattenspiele hätten ihn jetzt wahrscheinlich an den Rand des Wahnsinns getrieben.

      Robert sah die alte Dame an. Wie sie da leise lächelnd saß, hatte sie Ähnlichkeit mit seiner Mutter, die mit fünfundsechzig noch viel zu jung gewesen war fürs Altersheim. Als die elterliche Wohnung aufgelöst werden musste, hatte er mit seiner Schwester die Bücher geteilt. Um genau zu sein, war nur eines zu seinem geworden, weil ihm das Cover mit dem Ausschnitt vom Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle schon zu Zeiten gefallen hatte, als der Geschmack von Bierschinkensemmel und Apfel für ihn noch das größte Glück auf Erden bedeutet hatte.

      Die uralte Ausgabe von Stones Michelangelo stand nun daheim im Regal und Robert wollte sie eines Tages als Reisevorbereitung lesen. Nicht heute, sein Ziel war nicht Rom, sondern Rügen.

      Robert fiel ein, dass der Zettel mit den Ausflugstipps seiner Schwester noch zu Hause herumlag. Seine Packliste hätte er sich demnach sparen können. Er wurde langsam alt. Bis er fünfundachtzig war, fehlte allerdings noch die Hälfte.

      Grausame Vorstellung.

      „Schneller, Mama“, sagte ein kleiner Rotschopf und zerrte seine Mutter an der Hand durch den Mittelgang.

      „Langsam, ‘ne alte Frau is‘ doch kein D-Zug“, sagte sie und lächelte scheu in Roberts Richtung.

      „Ich will aber ganz schnell zum Fahrer vor!“, krächzte der Kleine.

      Ein angehender Lokführer.

      Robert überlegte.