Birgit Theisen

Herr Spiro


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und es gäbe kein Kämpfen um ein bisschen Freude am Leben.

      Es gibt nicht nur Sonnenschein auf der Welt, das dörrt sie doch nur aus.

      Man kann sich auch nicht versöhnen, ohne zuvor gestritten zu haben. Gewitter tun gut, wenn es zu lang drückend schwül war und kaum auszuhalten. Aber selbst im Streit muss man einander respektieren und den anderen akzeptieren, wie er ist. Nicht wie er sein könnte.

      Wer sich vor der Ehe nie nahe gekommen ist, wird es auch in ihr nicht. Außer er wacht auf… und darauf haben schon viele gewartet. Frag mich, ich habe unzählige Beziehungen scheitern gesehen!

      Jetzt zu erfahren, dass dieses, mein Mädchen, sich vor dem Gesetz für einen Mann entscheiden wird, dem ich all das nicht zutraue, was mir so immens wichtig erscheint, tut unendlich weh. Es ist schade um die Jahre Deines Lebens und um den Kummer und das Leid, die auf Dich zukommen werden. Ja, es wird viel Leid geben, und das zu wissen macht es für mich noch schlimmer. Es geht ja eines Tages wahrscheinlich nicht mehr nur um Dich allein, sondern auch um Deine Kinder.

      Aber ich schweige Dir gegenüber, weil wir oft genug darüber gesprochen und über manches heiß diskutiert haben. Nun merke ich aber, dass Du an Deinen eigenen Erfahrungen reifen und wachsen möchtest, und das ist Dein gutes Recht. Ich bin nur die alte, unabsichtlich kinderlos gebliebene Tante, die Dir schlaue Ratschläge geben möchte. Ich kann es ja verstehen, ich wäre in Deinem Alter auch nicht anders gewesen. Das ist das Schöne an einem Fehler: Man muss ihn nicht zweimal machen. (Von Thomas Edison, glaube ich.)

      Ach, Anna, verzeih mir meine Worte. Es tröstet mich nicht im Geringsten, dass Du sie erst lesen wirst, wenn es längst zu spät ist.

      Ich wünsche Dir Glück und Kraft. Du wirst beides dringend brauchen. Dass ich da sein werde, so lange ich kann, weißt Du. Und ich werde Dir helfen, wenn es notwendig ist. Du kannst auf mich zählen. Denn ich liebe Dich wie meine eigene Tochter und wünsche mir nichts mehr, als dass Du glücklich bist.

      In Liebe

      Deine Clara

      Anna ließ ihre Tränen laufen.

      Hätte sie auf Claras Rat gehört und ihren ersten Mann nicht geheiratet? Sie hatten oft zwischen den Zeilen über ihn gesprochen, da hatte Clara recht, aber nie so deutlich, wie es hier stand. Oder Annas Wille, es nicht zu hören, war stärker gewesen.

      Als sich die beiden damals das erste Mal begegnet waren, hatte Anna schon gewusst, dass sie sich nie verstehen würden.

      Du hast es geahnt, dachte sie und strich über die Seiten.

      Kurz nachdem Clara in Annas Armen gestorben war, hatte sie nicht nur gewusst, dass der Schmerz durch nichts mehr hätte größer werden können, sondern auch, dass es noch ein gutes Stück richtiges Leben vor ihr geben musste.

      Und Lisa gab es da schon. Ihre Tochter war nach der Trennung bei ihr geblieben.

      Robert joggte an der Wasserkante entlang, spürte feuchten Sand unter den Sohlen und wunderte sich für einen Moment, dass er nicht nennenswert einsank. Das war kein Treibsand, soviel stand fest.

      Es war kühler als vorhin, die Mücken, die dem Wind trotzten, suchten nach Nahrung. Robert strich sich über die Wangen, die er seit Monaten nicht mehr so nackt gespürt hatte.

      Er fühlte sich erleichtert und kam schneller als gedacht an der Seebrücke an, deren Holz noch im Schein der untergehenden Sonne glänzte. Einmal bis ans Ende und wieder zurück würde er schaffen und wahrscheinlich im letzten Licht des Tages wieder am Hotel ankommen. Wenn nicht, konnte er immer noch auf die beleuchtete Promenade wechseln, die Wahl blieb ihm.

      Ein Mann warf Brotstücke nach oben, um die sich zwei Möwen lautstark stritten. Andere stürzten sich ins grünbraune aufgewühlte Meer und flogen wieder auf, ohne dass man ihnen anmerkte, ob sie etwas gefangen hatten.

      Unter dem Schild Seebad Binz ließ sich ein schwer verliebtes Pärchen in den Zwanzigern ablichten. Auf der ganzen Welt waren es dieselben Motive für Beweisfotos, Robert langweilte es. Aber die salzige Luft tat seinen Lungen gut, das merkte er schon jetzt. Er verlangsamte sein Tempo und blieb schließlich an der Brüstung stehen, beobachtete schwer atmend das Werden und Vergehen der Schaumkronen.

      Auf der Uferpromenade konnte er dann nicht mehr joggen, zu viele Leute waren inzwischen unterwegs. Hier schlenderte man zu zweit. Hand in Hand, eingehakt oder sogar mit der Hand in der Hosentasche des anderen. So etwas zu sehen, tat ihm nicht mehr weh, darüber war er schon hinweg.

      Überall roch es nach gegrilltem Fisch, selten nach Pizza. Lichterketten gingen an, die kleinen Häuser standen da wie damals vor dreißig Jahren. Trotzig wirkten sie und stolz, dass sie immer noch an der Stelle bleiben durften, obwohl sie im Vergleich zu den Hotelklötzen wenig Profit abwarfen.

      Das Möwengeschrei wurde weniger, je tiefer sich die Dunkelheit senkte. Schwalben flogen zwischen den Gebäuden und jagten Mücken. Gegenüber vom Kurhaus spielte ein Orchester, dessen Bässe auf die Promenade wehten und sich mit dem Meeresrauschen mischten.

      Robert dachte an sein Cello. Seit Monaten stand es in der Ecke, unten im Schlafzimmer, er konnte es nicht anrühren.

      „Spielst du mir was vor?“, hatte Bea ihn jedes Mal gebeten, wenn er da gewesen war. Auch noch vom Pflegebett aus, das die Couch im Wohnzimmer für ein paar Wochen ersetzen musste.

      „Sie hört dich“, hatte Kai gesagt, nachdem sie schließlich ins Koma gefallen war, und Robert hatte gespielt.

      An sein Zögern vor dem ersten Schritt in Kais Wohnung nach Beas Tod konnte er sich noch allzu gut erinnern.

      „Jetzt tu nicht so fremd“, hatte ihn Kai angeherrscht und sich Sekunden später haltlos schluchzend an Roberts Brust geworfen.

      Knappe sechs Monate stand Roberts Cello jetzt herum und staubte vor sich hin. Kais Wohnung war längst aufgelöst, der Schmerz darüber brauchte entschieden länger.

      Irgendwann musste Robert den Schritt wagen, sich seiner verschmähten, hölzernen Freundin wieder zuzuwenden.

      Nur wann?

      Er spürte es nicht mehr, dieses Verlangen, und langsam fragte er sich, ob es in seinem Inneren jemals wieder so brennen würde wie früher, wenn er eine Weile nicht zum Spielen gekommen war. Mit der Zeit hatte er sich offenbar daran gewöhnt, dass überhaupt nichts mehr in ihm brannte.

      Robert ging wieder schneller. Die weißen Bänke mit den hohen gebogenen Lehnen sahen verwaist aus. Da war etwas, woran er unbedingt denken sollte.

      Er nahm den nächsten Abgang zum Strand, zog noch auf den Holzplanken seine Schuhe samt Socken aus und trug sie in der Hand. Seine Schwester hatte ihm aufgetragen, seine Füße im Sand einzugraben wie damals auf dem Spielplatz zwischen den Häusern. So weit wollte er jetzt nicht gehen.

      Eine große Möwe mit weißgrauen Augen stand vor Robert am Ufer. Sie hatte etwas Melancholisches an sich mit ihrem leichten Buckel und dem Blick aufs Wasser. Von Strandspaziergängern ließ sie sich offenbar nicht beeindrucken, sie blieb, wo sie war.

      Robert ging ein paar Schritte an ihr vorbei und setzte sich. Er griff nach den halben Muschelschalen und überlegte, ob er ein paar davon sammeln sollte.

      Wozu?

      Damit diejenigen, die eines Tages seine Wohnung auflösen durften, noch mehr davon zum Entsorgen vorfänden? Dieses Mal würde er keine halbe Hand voll Sand in ein Gläschen abfüllen wie sonst.

      Robert sah auf die Gischt, dann zu dem Mann, der am Saum des Wassers entlang auf ihn zukam. Sein Gang war schwer, er trug Bluejeans und einen schwarzen Pullover, dessen Ärmel im Wind flatterten.

      Das ist er!, durchfuhr es Robert vom Nacken bis in die Fingerspitzen. Das ist Herr Spiro.

      3

      Um 4:32 hatte es heute angefangen, Anna konnte sich genau erinnern. Jetzt zeigte der Wecker 5:13 und die bluthungrige Zimmergenossin hatte sich immer noch jedes Mal erfolgreich unsichtbar gemacht, wenn die Nachttischlampe angegangen war.

      Anna