Birgit Theisen

Herr Spiro


Скачать книгу

Güte, du musst Urlaub haben, dachte er und merkte, dass die Vertäfelung an der Wand hinter dem Büffet und die Tischdecken jetzt wieder so wirkten wie in den letzten Tagen. Er nahm es als Zeichen und wartete nicht mehr ab, bis die erste Aufzugladung Lärm in den Frühstücksraum kam und sich wortlos über seine vereinzelte Anwesenheit an einem Vierertisch ärgern konnte.

      Robert faltete die Serviette, trank den letzten Rest Sekt aus und stand auf.

      Ja.

      4

      Robert griff noch vor dem Ausgang des Hallenbads nach seiner Zigarettenschachtel. Die zweite Arbeitswoche lag hinter ihm und heute früh hatte er sich schon aufraffen müssen, überhaupt ins Schwimmbad zu gehen. Mit dem Ergebnis war er aber zufrieden, denn jetzt verhielt es sich wieder umgekehrt: Er spürte zwar jeden Muskel, konnte dafür aber wieder entspannt denken.

      Der Automat schluckte seine Karte, Robert schob das Drehkreuz mit dem Oberschenkel an und sah hinaus.

      Es regnete.

      Den rotblauen Schirm, den die Frau an der Eingangstür wie einen Rammbock vor sich hielt, ehe sie ihn zusammenklappte, erkannte er. Es war der vom Friedhof. Die Schirmspitze verfehlte Robert deutlich, er sprang trotzdem zur Seite.

      „Oh, Entschuldigung.“ Sie wurde rot.

      „Guten Morgen“, sagte er und steckte die Zigaretten wieder ein. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“

      Sie runzelte die Stirn. „Tatsache! Jetzt hätte ich Sie beinahe nicht erkannt. Guten Morgen.“

      Er sparte sich den Griff ans Kinn. Es wunderte ihn nicht, dass sie einen Moment gebraucht hatte.

      „Lange her.“ Sie nickte, als bräuchte sie Bestätigung.

      „Ich hätte eine Frage an Sie, Frau …“, sagte er.

      Sie legte den Kopf etwas schief.

      „Lesen Sie gern?“

      „Sehr. Warum fragen Sie?“

      „Es geht um eine kleine Geschichte. Ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören.“

      „Eine Geschichte von Ihnen? Gerne“, sagte sie. „Mein Name ist übrigens Wehner. Anna Wehner.“

      „Robert Lohwald.“ Er gab ihr erst die Hand, griff dann in seine Jackentasche und reichte ihr die beiden gefalteten Blätter. „Zu treuen Händen, Frau Wehner“, sagte er und war dann einen Moment lang nicht sicher, ob er gerade einen Fehler beging. Indem er seinem Instinkt vertraute, auf den er sich während seiner Zeit als Ermittler – bis auf die eine fatale Ausnahme – immer hatte verlassen können?

      „Ihr Vertrauen ehrt mich“, sagte sie leise und sah ihm dabei in die Augen.

      Seine Zweifel verflogen.

      „Darf ich fragen, worum es geht?“, fragte sie.

      „Ich möchte nicht zu viel verraten, nur, dass es mir wichtig ist, Ihre Meinung zu kennen. Rufen Sie mich an? Meine Nummer steht drauf.“

      „M-h. Mache ich. Und danke.“

      „Bis bald“, sagte er. „Genießen Sie das leere Bad.“

      „Danke. Und Sie den Tag.“

      Er sah Frau Wehner nach, wie sie ihre Zehnerkarte herausholte, an der Kasse vorbeiging und hinter dem Drehkreuz verschwand. Nach dem zu urteilen, was er spürte, war das gut so. Der stechende Schmerz in der rechten Seite, den er schon kannte, schwoll an. Robert schaffte es gerade noch zum Auto.

      Die wellenlose Wasseroberfläche war nach ihrem Geschmack gewesen und die Kraulerei hatte ihr gut getan. Jetzt war sie zwar fertig, aber zufrieden, und als sie wieder auf die Straße trat, hatte es aufgerissen und war wärmer geworden, wie vom Wetterbericht versprochen.

      Es zog sie heim.

      Dort nahm Anna die Seiten aus der Tasche. Würde sie jetzt endlich Herrn Spiro kennenlernen, von dem sie bisher offiziell nichts wissen durfte?

      Zwischen Tür und Angel hatte ihr noch nie jemand eine Geschichte überreicht. Eine, die sehr wichtig war, wie es schien.

      Anna dachte an Lohwalds wundersame Verwandlung. Er hatte sich nicht nur wie ein Gentleman benommen, ohne Bart sah er jetzt auch wie einer aus.

      Sie stellte die Kaffeetasse auf das Tischchen neben dem Sofa und hätte sich dazu die erste diesjährige Schachtel Oblatenlebkuchen vorstellen können, auch wenn erst September war.

      Beim nächsten Einkauf vielleicht, dachte sie, streckte sich lang aus und begann zu lesen.

      Die Lampe

      In der schmalen Gasse stand zwischen mehreren anderen ein bescheidenes Haus, das große Zufriedenheit ausstrahlte. Es gehörte Herrn Spiro.

      Der war ein geselliger Mensch und lud sich gerne Gäste ein. Wer zu ihm kam, fühlte sich wohl und wer es vermochte, brachte zu essen und zu trinken mit für ein gemeinsames Mahl.

      Wenn die Dämmerung einsetzte und zur Nacht wurde, entzündete Herr Spiro seine wunderschön verzierte Lampe, die inmitten des Tisches stand. Sie erhellte mit ihrem Licht den ganzen Raum und sorgte für warme Behaglichkeit. Auch seine Freunde wussten das zu schätzen. Stets blieben sie lange, redeten und spielten Karten.

      Wieder allein gelassen, saß Herr Spiro oft noch eine geraume Zeit neben seiner Lampe und sah ihr mit Bewunderung zu, wie beständig sie brannte und dabei doch frei von Ruß und Patina blieb.

      Der Händler, der ihm die Lampe verkauft und versprochen hatte, das besondere Öl vom Stand nebenan könne in ihr spurlos verbrennen, schien recht zu behalten. Bis jetzt hatte es keine Veränderung gegeben, nichts verdunkelte den Blick auf die Flamme, die Wärme, die von ihr ausging, war immer noch dieselbe wie am Anfang, und Herr Spiro freute sich jeden Abend darauf, heimzukehren.

      Wurden zum Sommer hin die Tage länger, wartete er geduldig, bis es dunkel genug war und es sich geziemte, die Lampe zu entzünden. Als Verschwender wollte er keinesfalls dastehen, doch ohne die Momente im Alltag, die er mit ihr teilte, wollte er nie mehr sein.

      Das war der Grund, warum Herr Spiro die Vorräte des kostbaren Brennstoffs in seinem Keller aufbewahrte und den immer sorgfältig versperrte. Er war sich des Wertes dieser Flaschen wohl bewusst und auch, dass er nie ein anderes Öl als dieses in die Lampe füllen würde.

      Eines Abends erwartete er wiederum Freunde, die mit ihm ein Abendbrot und den Wein teilen wollten. Er ging, von Vorfreude auf seinen Besuch beseelt, hinunter in seinen Keller, um zur Sicherheit noch etwas Öl zu holen, und erstarrte, als er die Flaschen im Regal sah.

      Sie waren allesamt leer.

      Herr Spiro fiel auf die Knie. Er konnte nicht begreifen, wie sein gutes Öl ausgegangen sein sollte. So viel davon hatte er nicht verbraucht, er war sicher. Er suchte den ganzen Keller ab und fand keine weiteren Flaschen.

      Sein Besuch würde bald kommen, er musste wieder hinaufgehen. Er nahm Stufe um Stufe, und jede kam ihm höher vor als die vorherige, bis er schließlich oben ankam.

      Als Herr Spiro an diesem Abend seinen Gästen die Tür öffnete, erschraken sie. Ob es ihm nicht gut gehe, er sähe so bleich aus, fragten sie ihn. Ob er krank sei und sie wieder nach Hause gehen sollten. Doch er verneinte und bat sie herein. Hoffend, dass das Öl, das sich noch in der Lampe befand, für diesen Abend reichen würde.

      Sie setzten sich alle an den Tisch, wie immer. Ebenso brannte die Lampe, wie immer. Und doch wusste Herr Spiro, dass dieses Mal alles anders war.

      Von Stunde zu Stunde wurde er unruhiger, sah so oft wie nie zuvor nach, ob die Flamme noch in derselben Höhe brannte oder ob sie schon aufflackerte.

      Er merkte, dass er seinen Gästen gegenüber unaufmerksam war, und er schämte sich dafür. Doch sein Herz war schwer und sie spürten es, ohne dass sie darüber sprachen.

      Früher als sonst brachen sie auf, verabschiedeten sich mit Gesichtern, in denen große Besorgnis