Birgit Theisen

Herr Spiro


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Claras Worte gewesen. Annas Patentante hatte ihr schon Jahre vor ihrem Tod diese Schuhschachtel übergeben. Nicht besonders gestaltet, nur ein weißer Karton mit einem dunkelblauen Deckel und einem braunen Paketband verschlossen, vom Gewicht her kaum der Rede wert.

      „Du weißt, dass ich nicht an ein Wiedersehen glaube, aber wenn sich deine Meinung über mich dadurch ändert, will ich das wenigstens nicht erleben!“

      „So schlimm?“ Anna hatte den Kopf geschüttelt. „Dann möchte ich, dass du die Sachen verbrennst.“

      „Aber du schreibst doch noch, oder?“ Clara klang heiter.

      Anna zuckte die Schultern. „Ab und zu.“

      „Dann heb die Schachtel auf. Vielleicht inspiriert sie dich eines Tages zu einem Roman. Also, ich an deiner Stelle würde sie aufheben. Es geht um Liebe, um nichts anderes.“

      Anna war nie neugierig gewesen, sie hatte die Schachtel angenommen und nicht geöffnet. Wollte sie, dass sich ihr Bild von Clara jetzt, fünf Jahre nach deren Tod, wandelte? Anscheinend war sie nun auf dem Trip, neugierig zu sein. Die Sachen waren für sie bestimmt, da durfte sie guten Gewissens hineinschauen.

      Anna nahm die Schere und ritzte das Paketband an. Ihre Finger zitterten, als sie den Deckel anhob.

      In der Schachtel lagen Postkarten, darunter einige Briefe, mit einer silbernen Schleife zusammengehalten. Dem Absender nach handelte es sich um Post von Claras Mann. Der war fünfzehn Jahre vor ihr ohne jede Vorwarnung am Sekundenherztod verstorben und Clara hatte danach keinen anderen mehr angeschaut.

      Als Anna einmal hatte wissen wollen, warum, war die Antwort eine Gegenfrage gewesen: „Glaubst du wirklich, ich würde die Liebe meines Lebens ein zweites Mal finden?“ Clara hatte die Augenbrauen gehoben. „Und nimm an, es wäre so. Was mache ich, wenn der Mann mich auch wieder so Knall auf Fall verlässt wie mein Heiner?“

      Unter den gebündelten Briefen lag ein großes Kuvert. Für mein Paten- und Wahlkind stand darauf. Jetzt war es kein Zittern mehr, der Umschlag bebte in Annas Händen. Sie nestelte die Seiten heraus. Die waren auf derselben elektrischen Schreibmaschine geschrieben, auf der sie damals als Kind an so manchem Wochenende das Zehnfingersystem geübt hatte, das war vermutlich kein Zufall. Dem Datum des Briefes nach hätte es zu der Zeit in Claras Haushalt durchaus schon einen Drucker gegeben.

      Es war einmal ein kleines Mädchen, das ich schon kannte, als es drei Stunden alt war, und das ich groß werden sah. Neugierig, wissbegierig, mit einer bestechenden Logik gesegnet oder gestraft – wie man es nimmt– und von Tag zu Tag hübscher und charmanter, ohne sich dessen bewusst zu sein, und das war gut so.

      Als dieses Mädchen zur jungen Frau geworden war, stellte es mir einen Mann vor. Nicht leibhaftig, sondern in Form von Anekdoten. Ich konnte mir ein Bild von ihm und seinem Charakter malen. Das war kein gutes.

      Ich spürte, dass dieses Mädchen einen Menschen ausgewählt hatte, der nicht zu ihm passte, und ich spürte auch, dass es das tief in seinem Herzen wusste, aber nicht zugeben wollte. Es war verliebt, jedoch nicht naiv. Die rosa Brille hielt lange, doch als die Gläser klarer wurden, hörte das Mädchen immer noch nicht auf zu denken, alles könne gut werden, wenn es das nur genug wollte. Es nahm sich vor, sich noch mehr Mühe zu geben, es wollte mit dem Kopf durch die Wand, und es sagte Ja, als der Mann es schließlich fragte, ob es ihn heiraten wolle.

      Ich dachte: Nein.

      Man kann einen Mann nicht verändern, wenn er in dem Alter noch immer eine kindliche Vorstellung von der Liebe zwischen Mann und Frau hat. Es ist egal, warum er so empfindet, nur eines hätte Dir an der Stelle klar sein müssen: Liebe wird für ihn nie das bedeuten, was sie Dir bedeutet, mein Mädchen. Und ich befürchte sogar Schlimmeres: Er wird sich eines Tages so zeigen, wie er wirklich ist. Vielleicht sogar lieblos, was ich nicht hoffe, aber für möglich halte, nach all dem, was ich gehört habe. Für mich ist er ein seelentauber Mensch, wofür er vermutlich nichts kann. Aber genau deswegen ist er nichts für Dich. Ein Partner ist in seinen Augen ein Besitz, der mit Zähnen und Klauen verteidigt werden darf. Er wird seine Vorstellung davon, wie er geliebt werden soll, durchsetzen, wenn es sein muss, auch mit Gewalt. Solchen Menschen traue ich alles zu, nur nicht das Einfühlungsvermögen für ein lebenslanges Miteinander auf Augenhöhe.

      Er ist ein Mann, dessen erklärtes Ziel es nicht ist, seiner Frau die Welt zu Füßen zu legen oder ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Auch nicht, wenn er mit ihr schläft. Er wird immer die Dunkelheit bevorzugen, weil er Angst vor dem Licht hat, und er wird sich auch in der Liebe hauptsächlich um sich selbst kümmern.

      Einer wie er kann sich nicht öffnen, er kann nicht loslassen, er kann nicht vertrauen, weil er sich selbst und seine Gefühle nicht kennt und sie sich auch nicht zeigen lassen wird, denn er glaubt, schon alles zu wissen und vor allem besser.

      Ich kann Dir nur eines sagen, von Frau zu Frau: Seitdem die Sklaverei und all die anderen abscheulichen Dinge dieser Art abgeschafft wurden, gibt es keinen Besitzanspruch mehr! Der Mensch bleibt auch als Partner frei!

      In einer echten Partnerschaft darf jeder stets ein eigenständig denkendes und fühlendes Individuum bleiben. Wer wirklich liebt, gibt dem anderen den Freiraum, den er braucht, denn er vertraut ihm.

      Wenn zwei einander im Gespräch nahe bleiben, wird es keine Defizite geben, die sich nicht ausräumen ließen. Es gibt keinen Grund auszubrechen oder sich in fremden Gärten umzusehen, wenn die Basis stimmt und über Jahre und Jahrzehnte gefestigt wird. Mit Festigen meine ich nicht die Macht der Gewohnheit, immer wieder sonntags seinen Lieblingskuchen gebacken zu bekommen wie bei Mama, oder aus Bequemlichkeit beim anderen zu bleiben! Damit meine ich Liebe, die wächst, Liebe, die dadurch stärker wird, dass man sich miteinander entwickelt und einander mit jedem Tag mehr zu schätzen weiß.

      Was mich so sicher macht? Meine Erfahrung. Heiner und ich haben uns Treue geschworen und hatten nie das Gefühl, zu ihr gezwungen zu sein. Wir haben einander geachtet und immer mehr dafür geliebt, dass wir einander hatten und füreinander da sein konnten. Wir haben jeden Tag bewusst miteinander gelebt und den Humor nie aus den Augen verloren. Sogar ein Lachen kann ein Liebesbeweis sein, glaub mir.

      Als wir noch verlobt waren, hat er mich einmal gefragt, ob ich glaube, dass man eine Liebe wie unsere in einer Ehe aufrechterhalten kann.

      „Ja“, habe ich gesagt. „Weil wir uns nicht darauf verlassen, dass sie von alleine hält.“

      Er wollte von mir wissen, ob uns nicht eines Tages der Alltag einen Strich durch die Rechnung machen würde. Das war zu einer Zeit, als wir noch dachten, eines Tages würden unsere eigenen Kinder ins Schlafzimmer gelaufen kommen. Ja, habe ich ihm geantwortet, denn ich war von der Kraft unserer Liebe überzeugt. Auch als Eltern bleibt man ein Paar, das sich Zeit füreinander nehmen darf und sich Inseln der Zweisamkeit schafft.

      Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus, sondern auf Folgendes: Man muss nicht alle vierundzwanzig Stunden Sex haben, um zu zweit glücklich zu sein. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, dem anderen zu zeigen, wie sehr man ihn liebt.

      Bist Du schon einmal von seinem Blick geküsst worden? Hat er Dich schon einmal kurz angerufen, um Dir zu sagen, dass er Dich noch spürt? Hattest Du schon einmal das Gefühl, dass er Dir in einem Gespräch über Alltagsdinge mit jedem Wort sagt, dass er Dich liebt? Bist Du von ihm nach einem harten Tag schon einmal umarmt worden, Wange an Wange, bis Du Dich ganz wohl gefühlt hast und wieder lächeln konntest, weil er einfach für Dich da war und spürte, was Du gerade brauchtest?

      Du musst es mir nicht sagen, ich weiß es.

      Solche Dinge würden Dich für den Augenblick alles rundherum vergessen lassen, Du wüsstest, dass Du angekommen bist, dass dieser Mensch der ist, der für Dich geboren wurde. Du wüsstest, dass es nie hätte besser werden können, weil eine solche Liebe das Größte ist, was Dir im Leben passieren kann. Weil Dich Dein Mann so nimmt, wie Du bist, und Du bei ihm so sein darfst, wie Du bist. Und weil Du bei ihm Kraft tanken kannst für die Aufgaben, die Dir das Leben stellt, und für die Herausforderungen, denen Du Dich stellen möchtest, um an ihnen zu wachsen.

      Du darfst erst aufhören zu suchen, wenn Du Dich ergänzt