Birgit Theisen

Herr Spiro


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wird das eine Zauberfahrt“, hatte seine Mutter ihm und seiner Schwester versprochen. „Man geht quasi Zuhause ins Bett und wacht kurz nach Sonnenaufgang am Meer wieder auf.“

      Nach der Durchsage des Schaffners, ob ein Arzt an Bord wäre, war sein Vater mitten in der Nacht von der Liege in seine Hose gesprungen und auch nach dem ewig langen Halt des Zuges im nächsten Bahnhof nicht wiedergekommen. Robert hatte sich die aufregendsten Geschichten ausgemalt und musste darüber eingenickt sein, denn Vaters Rückkehr ins Abteil hatte er ebenso wie die Weiterfahrt verschlafen.

      Die Informationen am nächsten Tag waren spärlich gewesen.

      „War nicht so schön. Wir haben die Polizei gebraucht“, hatte sein Vater gesagt.

      Mehr war aus ihm über den Grund für die zweistündige Zugverspätung nicht herauszubekommen gewesen, bis heute nicht. Damit sich so etwas nie mehr wiederholte, hatte Robert an dem Tag beschlossen, zur Kripo zu gehen, und er war dabei geblieben.

      An eines konnte er sich noch erinnern: Da war nicht der versprochene Sonnenaufgang am Meer gewesen, es hatte junge Hunde geregnet.

      Wie heute früh. Und wie vor knapp drei Monaten.

      Als Fiona ausgezogen war, hatte sich der werdende Papa, ein breit grinsender Pfeffersack, auf der Ladeluke stehend wichtiggemacht. Robert war in sein Auto gestiegen und in irgendeinem Wald spazieren gegangen. Ohne Schirm im kalten Sommerregen, er hätte nicht mehr sagen können, wie lang, aber die Reste der Erkältung, die er sich dabei eingefangen hatte, lagen ihm immer noch auf den Bronchien, er wurde das Zeug einfach nicht los. Die Raucherei, die er wieder für sich entdeckt hatte, tat vermutlich das Ihrige dazu.

      Geschieht dir ganz recht, du Oberhirsch, dachte er bei jedem größeren Hustenanfall, der ihn an Kais Buch von damals erinnerte. Das war ein ausgemustertes internistisches Lexikon gewesen, voll mit eindrucksvollen Bildern von geteerten Lungen und Raucherbeinen. Sein Freund hatte es schon mit zwölf von seinem Vater bekommen.

      Und jetzt?

      Jetzt lebte Kai nicht mehr, obwohl er nicht geraucht hatte. Und wie Robert bei Bea mitansehen musste, brachte Verzicht auch nichts. Aus welchem Grund sollte ein Mensch auch hundert werden wollen?

      Er spürte Bitterkeit aufsteigen.

      Die Spiro-Geschichten lagen noch im Drucker, er hatte sie vergessen. An den Memory Stick zu denken war ihm gelungen, aber der eignete sich mit Sicherheit nicht für eine lange Reise als Flaschenpost. Andererseits überlegte Robert schon jetzt, ob er dieses Vermächtnis dadurch loswerden würde. Er hatte seine Zweifel. Was, wenn er sich danach für den Rest seiner Tage wie ein Verräter fühlte?

      Er erschrak, als die Frau ihm gegenüber ihr Buch zuklappte.

      „Wären Sie gleich nochmal so nett, junger Mann?“, fragte sie.

      War der nächste Halt schon Rostock? Dann musste er die Durchsage überhört haben. Abgesehen davon war die Frau eine schlechte Lügnerin. Man konnte viel über ihn sagen, aber nicht, dass er jung aussah. Schon allein der Vollbart mit den ersten grauen Flusen darin musste ihr verraten, dass er die Vierzig gerissen hatte. Er half ihr trotzdem mit dem Koffer.

      Früher, als Kind, hätte er sein Gepäck auf dem Bordstein stehen gelassen und wäre an den Strand gelaufen. Robert hielt inne, spürte den kühlen Wind auf der Haut und holte einmal tief Luft. Zu tief. Sein Husten rächte sich, ließ ihn an Teerlungen und Raucherbeine denken, ehe er sein Gepäck aufnahm und die pompöse Lobby betrat.

      Der blonde Jüngling an der Rezeption war eifrig, verkniff sich die lehrbuchgemäße Frage nach der Anreise und kam gleich zum Geschäftlichen. „Wenn Sie das hier bitte durchlesen wollen, ob wir Ihre Angaben richtig übernommen haben“, sagte er mit breitem, sächsischem Akzent.

      Robert las und nickte.

      „Ihr Zimmer ist im vierten Stock, Nummer vierhundertsechs, fast ganz am Ende des Gangs … und wenn ich das richtig sehe, brauchen Sie tatsächlich nur eine Karte?“

      Die blondgefärbte Kollegin des Jünglings zuckte leicht zusammen, Robert blieb gelassen.

      „Das sehen Sie richtig“, sagte er.

      „Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt. Wenn Sie etwas brauchen: Wir sind jederzeit und immerzu für Sie da.“

      Die Kollegin deutete auf eine Liste. „Wenn wir Sie noch auf unser Restaurant aufmerksam machen dürften …?“

      „Ah ja“, sagte der Jüngling und wurde rot. „Sie können sich hier eintragen. Jeweils bis mittags für den nächsten Abend zum Essen bei uns.“ Er sah zur Wanduhr. „Also für heute nicht mehr, aber dann für morgen.“

      „Danke für den Hinweis“, sagte Robert und fragte sich, ob es wohl möglich war, den Tisch im Restaurant als Dauerauftrag für den gesamten Aufenthalt zu reservieren. Denn dass er zwei Wochen lang an der Promenade entlanglaufen und sich jeden Abend damit beschäftigen würde, wo er nun was essen sollte, konnte er sich nicht vorstellen.

      „Dann, wie gesagt, einen schönen Aufenthalt und hier ist Ihre Karte.“

      Robert nahm sie entgegen und danach den Aufzug in den vierten Stock. Der dicke blaue Teppich auf dem Flur bremste die Kofferrollen, aber der war ihm lieber als unsauber verfugte Pflastersteine.

      Er sah das Meer durchs Fenster am Ende des Gangs und las die Zimmernummer. Vierhundertzehn. Robert war zu weit gegangen.

      Zwei Türen davor gab ihm der Sensor grünes Licht. Der Raum war in grauen und weinroten Tönen eingerichtet und gefiel ihm sogar besser als auf dem Foto im Netz.

      Als Robert das Doppelbett sah, war ihm klar, warum ihm der Azubi zwei Karten geben wollte.

      Das war einmal.

      Er konnte sich trotzdem noch gut an ihre Urlaube und sogar an die frühen Freitagabende daheim erinnern. Einmal hatte er Fiona, eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa liegend, gefragt: „Weißt du eigentlich, wie sich das Warten auf den ersten Kuss nach einer Woche anfühlt?“

      „Nein. Wie denn?“ In ihrer Stimme keine Spur von Neugier.

      „Wie das Warten auf den Weihnachtsabend.“

      Kopfschütteln an seiner Schulter. „Spinner.“

      Er hatte trotzdem einen Kuss bekommen. „Spürst du das eigentlich nicht? Bei mir kribbelt es spätestens seit Mittwoch am ganzen Körper.“

      „Hm. Nein. Das kenne ich nicht.“

      Er war tatsächlich ein Spinner gewesen. Gescheitert an seinem Traum von der ewigen Beziehungsromantik trotz des Alltags. Selbst in der Fernehe hatte sie die Routine eingeholt und die Gespräche waren kürzer geworden.

      „Hier gibt’s nichts Neues“, war ihr Dauerbrenner gewesen. Und: „Viel Arbeit, neue Aufträge, noch dazu ein Frischling zum Einarbeiten. Ich komme gar nicht mehr dazu, an andere Sachen zu denken.“

      Sachen wie mich, hatte er an solchen Stellen zunehmend stiller ergänzt.

      War es um seine Arbeit gegangen, hatte er oft das Gefühl gehabt, sie hätte nebenbei E-Mails gelesen oder SMS getippt.

      Am Ende, als der Frischling sich anders als erwartet bewährte, hatte Fiona nur noch gesagt: „Mach dir um mich keine Sorgen.“

      Sie hatte da schon keine mehr. Sie hatte für neues Leben gesorgt, während er Bea dabei zusehen musste, wie sie …

      Robert drehte den Griff an der Fenstertür und trat über die Schwelle auf den Balkon. Von dort hatte er den seitlichen Meerblick, wie versprochen. Das Hotel lag direkt an der Strandpromenade, einen Katzensprung vom Wasser entfernt. Das war purer Luxus, den er sich da leistete.

      Als er wieder ins Zimmer trat, zeigte ihm der Spiegel neben der Garderobe einen Typen, den er auf der Straße weder gegrüßt noch bedauert hätte. Weil jeder seines Glückes Schmied war und wenn einer sich so gehen ließ …

      Was Robert jetzt brauchte, hatte er: ein Badezimmer und eine Rasierklinge.