Birgit Theisen

Herr Spiro


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guten Morgen was kann ich für Sie tun?“, sagte die Dame am anderen Ende, ohne Luft zu holen.

      „Frau Brandstetter, hier ist Wehner.“

      „Ah, Frau Wehner! Er ist gerade auf dem Sprung, aber ich stell’ Sie noch schnell durch, einen Moment, bitte.“

      Die Zwischenmusik hatte keine Chance.

      „Anna! Gut, dass du was hören lässt, ich hab heut schon an dich denken müssen. Wie geht’s dir denn?“

      Anna wusste, dass Lisas Geburtstag in seinem speziellen Kalender stand. Der war immerwährend, Lisa war nicht mehr.

      „Danke, geht schon“, sagte sie. „Aber darauf wollt‘ ich gar nicht hinaus. Es ist wegen der Sache mit dem Kinderbuch. Ich hab mir das angeschaut, aber ich fürcht‘, das wird nix.“

      „Das hab ich mir schon gedacht, weil du gar so lang nix hast hör’n lass‘n. Ist nicht schlimm, dann geb‘ ich das jetzt der Johannserin und ihren Damen, auch wenn ich denk‘, dass du … Aber eines wollt‘ ich dir noch sagen: Ich brauch‘ dich noch und das weißt du hoffentlich, oder? Also, wenn was ist, meldest du dich. Abg’macht?“

      „Abg’macht. Und danke.“

      „Nix zu danken. Du kommst wieder, du bist noch lang nicht am End‘ deiner Karriere bei mir. Ich schick‘ der weiterhin alles, von dem ich denk‘, dass es was für dich sein könnt‘. Machen wir das so?“

      „Machen wir so“, sagte sie nur, weil sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte.

      Scheingraber kannte das von ihr, es war nicht das erste Mal, dass ihr das an einer solchen Stelle passierte.

      „Dann mach’s gut und auf bald, meine Liebe“, sagte er noch und legte auf, bevor sie den Gruß erwidern musste.

      Himmelherrgott nochmal, dachte sie, das wird so gehen, bis das ganze Geld vom Hausverkauf aufgebraucht ist.

      Nach jedem Gespräch dieser Art fühlte sich Anna wie zerschlagen. Was sollte sie machen? Wie andere nach einem Schockerlebnis nicht mehr redeten, konnte sie nicht mehr farbig illustrieren. Schon gar keine lustigen Kinderbücher. Zumindest nicht in einer vertretbaren Zeit. Aber Scheingraber hatte immer noch Verständnis dafür. Sie glaubte ihm, was er sagte. Dieser Mann würde sie nicht vergessen.

      Kaffee hatte sie nach wie vor keinen im Haus, der war beim letzten Einkauf im Supermarktregal geblieben. Anna nahm ihren Mantel vom Haken und machte sich auf den Weg.

      Robert zog den Rollkoffer hinter sich her. Daran war seine Schwester schuld, denn sie hatte schon vor Wochen nach einem Hotel und dem dazugehörigen Flug gesucht, und er musste in einer schwachen Minute so etwas wie Ja gesagt haben. Die Reisebestätigung war jedenfalls eines Tages im Briefkasten gewesen.

      Ihm blieb jetzt nichts anderes übrig, er musste.

      Er sah auf die Uhr, halb neun. Der Zug zum Flughafen fuhr am Hauptbahnhof erst um kurz vor zehn und die Auszubildende aus der Personalabteilung hatte gesagt, es ginge nur um seine Unterschrift.

      „Wir haben ein neues Formular. Und das wurde vergessen.“ Die junge Frau hatte sich angehört wie eine Dreizehnjährige im Zeugenstand. So klein, mit Hut, hätte Kai gesagt.

      „Und?“, hatte Robert gefragt.

      „Das Ding ist sehr wichtig, weil ohne Ihre Unterschrift drauf kann Ihr neuer Ausweis nicht fertig gemacht werden … Und da wollte ich Sie fragen … also, wäre es möglich, dass Sie morgen nochmal vorbeikommen? … Ganz kurz nur! Sonst werden Sie mich wahrscheinlich nie mehr mit Kopf sehen.“

      „Wäre vermutlich schade drum“, hatte Robert geantwortet und überlegt, ob er dieser jungen Frau überhaupt schon einmal in natura begegnet war.

      „Kommen Sie dann morgen früh?“

      „Ich werde da sein. Schönen Feierabend wünsche ich.“

      „Wünsche ich Ihnen auch, Herr Lohwald.“

      Er hatte die Erleichterung in ihrer Stimme gehört, obwohl er offengelassen hatte, wann er kommen würde. Wenn sie heute seinetwegen früher als sonst im Büro hatte erscheinen müssen, glich sich das nur aus. Von daheim aus hätte er ein Taxi zum Bahnhof nehmen können, jetzt musste er sein Gepäck durch die halbe Stadt karren und sich vom Geräusch der Kofferrollen auf dem Pflaster den letzten verbliebenen Nerv rauben lassen.

      Zur Sicherheit sah Robert noch einmal auf die Uhr. Immer noch halb neun, er hatte also Zeit für ein kleines Frühstück.

      Der Geruch warmer Brezen und Semmeln schlug ihm aus der Bäckerei entgegen. Frank Fährmann stand hinter dem Tresen, an ein Regal gelehnt, Robert riss ihn aus seinen Gedanken.

      Im nächsten Moment vermisste er schon die alte Frau Fährmann und ihm schwante Böses.

      „Wie geht’s deiner Mutter?“, fragte er.

      Frank kratzte sich hinterm Ohr. „Die hat sich heute frei genommen. Wenn’s Wetter noch wird, will sie mit den Kindern in den Tierpark.“

      „Ach so“, sagte Robert und hoffte für Frau Fährmann, dass es stimmte. Sie hatte auf ihn in der letzten Zeit einen gebrechlichen Eindruck gemacht.

      Robert ließ sich eine Nussschnecke und ein Schokocroissant einpacken und ging einen Schritt zum Stehtisch am Schaufenster. „Gibst mir bitte noch einen grünen Tee?“

      Frank reichte ihm die Tasse über den Tresen.

      Die Frau, die zur Tür hereinkam, kannte Robert. Woher, konnte er nicht sagen.

      „Ein Pfund gemahlenen Kaffee, bitte“, sagte sie.

      Frank hängte die Auffangtüte an das Gerät und schaltete es ein.

      Die Frau drehte sich zu Robert um und runzelte die Stirn.

      Ich mag das Geräusch der Mühle auch nicht, dachte er.

      Aber vielleicht ging es ihr wie ihm und sie überlegte, wohin sie ihn sortieren sollte.

      „Möchten Sie auch was trinken?“, fragte Frank die Frau.

      „Das wäre eine Idee.“ Ihre Stimme klang angenehm weich. „Saukalt wird’s langsam wieder in der Früh.“

      Frank nahm eine große, weiße Tasse. „Kaffee oder Tee?“

      „Kaffee, bitte.“

      „Milch steht drüben bei dem Herrn, der Zucker auch. Oder wollen Sie einen Süßstoff?“

      „Schwarz, danke“, sagte sie und knöpfte ihren Mantel auf.

      Was sie darunter trug, war auch schwarz. Sie sah aus, als würde sie von einer Beerdigung kommen. Und doch nicht. Da waren keine Spuren von Tränen.

      Robert schob seine Tasse ein wenig beiseite, damit sie Platz hatte.

      Die Frau nickte und starrte aus dem Fenster. Nach dem zweiten Schluck Kaffee kniff sie die Lippen aufeinander und schaffte es nicht, ihre Tränen wegzublinzeln.

      Einer der langen Momente, dachte Robert und überlegte, ob er ihr ein Taschentuch reichen sollte. Er ließ es bleiben, es war nicht nötig.

      Beim gemeinsamen Aufbruch ein paar Minuten später konnten sie sich nicht gleich einigen, wer wem die Tür aufhalten durfte.

      Robert hob seinen Hartschalenkoffer von der Stufe aufs Pflaster. „Ein schwerer Tag?“, fragte er, ohne die Frau anzusehen.

      „Nicht ganz leicht, ja.“

      „Verstehe.“

      Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Ihr Nicken kam zögernd.

      Der Mann, den Anna vom Friedhof kannte, blieb mit einem Fuß an einem aufstehenden Pflasterstein hängen und stolperte.

      Sein Koffer schwankte, kippte aber nicht um.

      „Hoppala“, sagte sie.

      Er sah