Kristian Winter

Liebeswahn


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Weidenfeller, eine Kapazität auf dem Gebiet der kognitiven Verhaltenstherapie und schizophrener Paranoia. Verständlicherweise vermied sie unangemeldete Besuche, denn sie fürchtete seine mitunter doch sehr ruppige Art. Doch das heutige Erlebnis war derart beunruhigend, dass sie ihre Furcht überwand und gegen diese Regel verstieß.

      Als sie sein Behandlungszimmer betrat – ein geräumiger Raum mit hellen, sterilen Wänden, einem rustikalen Schreibtisch und Freud‘scher Couch in der Ecke - huschte ihr verstörter Blick sogleich durch das Zimmer und blieb, Gott weiß warum, an dem schweren Brieföffner auf dem Schreibtisch haften. Eigenartige wulstige Rillen zierten die Seiten des barocken Gegenstandes. Warum ihr das auffiel, konnte sie nicht erklären, ebenso wenig wie das plötzliche Verlangen, ihm dieses Ding an den Kopf zu schleudern.

      Der Professor war ein stattlicher, bereits bejahrter Mann mit buschigen ergrauten Augenbrauen und einem markanten, scharf geschnittenen Gesicht. Er kannte die Patientin schon länger und hatte in letzter Zeit einige durchaus bemerkenswerte Erfolge erzielt, schien aber noch nicht recht zufrieden. Im Grunde war er wortkarg und entnahm vieles den Augen und vor allem der Mimik seiner Patienten, so dass längere Diskussionen nicht nötig waren. Es hasste so etwas. Vielmehr liebte er die Schweigsamkeit, durchbrochen von gelegentlichen Monologen.

      So war es auch jetzt. Statt etwas zu sagen, schnitt er ein höchst unzufriedenes Gesicht. Mehrmals setzte seine Patientin an, sich ihm zu offenbaren, brach aber immer wieder ab. Schließlich zog sie entnervt ihre Perücke vom Kopf, legte die Brille auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber auf den knarrenden Stuhl.

      „Ich bin gekommen, weil…“, versuchte sie es erneut, geriet jedoch nach seinem finsteren Blick ins Stocken.

      „Ja, ich weiß“, kam er ihr zuvor, erhob sich und schritt, die Hände über dem Rücken verschränkt, nachdenklich vor ihr auf und ab. Hin und wieder blieb er stehen und betrachtete sie überaus besorgt. „Es ist also wieder passiert“, folgerte er.

      „Ja, leider.“

      „Und wo dieses Mal?“

      „In der alten Linienstraße. Dort habe ich die Nerven verloren und bin weggelaufen.“

      „Aber warum? Wir hatten doch vereinbart, dass Sie nicht davonlaufen, sondern sich den Dingen stellen! Warum, um Himmels Willen, tun Sie nicht, was man Ihnen sagt?“

      „Ja, ich weiß! Aber ich hatte plötzlich Angst, obgleich ich mir ständig sagte, keinen Grund dafür zu haben. Ich meine, wir sind doch alle Menschen! Geht es Ihnen nicht ebenso, Herr Professor?“

      „Um mich geht es hier nicht!“, wehrte er ab. „Sie sind doch nicht etwa wieder in diesem Café gewesen?“

      „Doch!“

      „Hat Sie das Personal erkannt?“

      „Nun ja“, wich sie verlegen aus und senkte den Blick, was ihn nur noch weiter verärgerte.

      „Was heißt hier: ‚Nun ja‘? Hat man es mitbekommen oder nicht?“, forderte er eine Antwort.

      „Nicht direkt.“

      „Tut mir leid, Frau Ritter! Aber wenn die Therapie anschlagen soll, müssen Sie sich an die Abmachungen halten! Widerstehen Sie Ihrem Drang, Ihre Sehnsüchte zu realisieren. Das sind nur unsinnige Verlockungen und somit Prüfstein Ihrer Willensstärke. Sie können sie nur in dem Maße beherrschen, wie Sie sich selber beherrschen. Jedes Nachgeben wäre kontraproduktiv.“

      „Das mag wohl sein. Aber ich fürchte bereits, dass er das längst weiß.“

      „Das wer was weiß?“

      „Er.“

      Der Professor zog die Stirn kraus. „Reden Sie nicht solchen Unsinn! Nichts weiß er, weil er gar nichts wissen kann! Sie müssen sich zusammennehmen, Frau Ritter! Es gibt keinen Er und das ein für alle Mal!“

      „Meinen Sie wirklich?“

      „Ganz bestimmt! Haben Sie Ihre Medikamente genommen?“, fragte er jetzt streng.

      „Ja.“

      „Bitte öffnen Sie Ihre Bluse. Ich muss Sie untersuchen.“ Der Professor griff zum Stethoskop.

      „Untersuchen?“

      „Ja, Ihre Atmung geht wieder schwer, vermutlich wieder Ihr Stressasthma. Wir müssen aufpassen, dass es nicht chronisch wird.“

      „Soll ich mich entkleiden?“

      Der Psychiater schaute seine Patientin verdutzt an. „Wozu das denn?“

      „Ich weiß es nicht. Aber manchmal spüre ich diesen Zwang.“

      „Welchen Zwang? Werden Sie bitte deutlicher!“

      „Mich vor einem Mann zu entkleiden“, fuhr sie errötend fort. „Aber er müsste dabei wehrlos sein, am besten gefesselt, damit er gezwungen ist, mich anzusehen. Diese Konzentration seiner Aufmerksamkeit muss doch zu seiner Gier führen, nicht wahr?“

      „Nicht unbedingt. Ich befürchte eher das Gegenteil. Wie kommen Sie eigentlich darauf?“

      „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß es nicht. Ich fühle nur so. Ist das schon krank?“

      „Normal ist es jedenfalls nicht. Denken Sie dabei an jemand Bestimmten?“

      „Ja, an meinen Chef.“

      „Warum gerade an ihn?“

      „Das weiß ich nicht. Er ist so anders, wissen Sie?“

      Davon beeindruckt hörte er sie ab, leuchte ihr in den Rachen und betastete routiniert Hals und den Nacken, konnte jedoch keine Auffälligkeiten feststellen.

      „Das hatten wir doch schon“, bemerkte er beiläufig. „Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass es vergeblich ist, einen Mann zu lieben, der Ihre Liebe nicht erwidert! Das führt zu Ihrer emotionalen Verwirrung, was wir uns in Ihrem Zustand nicht leisten können.“

      Sie überlegte einen Moment, wobei ein leichtes Zucken ihre Lippen umspielte. „Ja, ich weiß! Aber ich kann es nicht abstellen.“

      „Das sollten Sie aber. Es hat keinen Sinn, Ihr Verlangen nach ihm zu intensivieren und dabei anderen Dingen keinen mehr Raum zu lassen.“ Der Professor sah der Patientin jetzt tief in die Augen. „Sie sind doch eine attraktive junge Frau! Sie sollten einfach mal ausgehen oder ein gutes Buch lesen. Auch ein längerer Spaziergang an der frischen Luft könnte nicht schaden. Das bringt Sie auf andere Gedanken, dann werden Sie Ihre Verfolgungen bald nicht mehr spüren.“

      „Aber wenn es doch so ist?“

      „Es ist eben nicht so!“, herrschte er sie an, nahm sich jedoch gleich wieder zusammen. „Welchen Sinn sollte es machen, eine Frau zu verfolgen, von der man nichts will! Ein Stalker verfolgt sein Opfer stets zum Zwecke des Eigennutzes, das heißt, er will es unter seinen Willen zwingen, da er es als sein Eigentum betrachtet. Das kann aber in Ihrem Fall kaum sein!“

      „Ich hatte mehrmals versucht, ihn dabei zu ertappen“, fuhr sie jedoch unbeeindruckt fort, als hätte sie gar nicht zugehört. „Es ist mir jedoch bisher noch nicht gelungen. Er ist jedes Mal schneller.“

      „Sehen Sie“, der Professor klatschte begeistert in die Hände. „Das erklärt alles. Sie versteigen sich in eine Vision und kollidieren dabei mit der Realität. Sie müssen aber die Realität zulassen, sonst kommen Sie niemals aus diesem Kreislauf heraus … Sie hatten doch sicher schon mal einen Partner?“

      „Eigentlich schon, aber nicht wirklich.“

      Er sah sie verwundert an. „Wie darf ich das verstehen?

      „Nun ja, es ist nie dazu gekommen, wissen Sie? Der Gustl war zwar ganz patent und sogar beinahe intelligent. Wir waren auch zweimal bei ihm zuhause und er stellte mich seiner Mama vor, einer herzensguten alten Dame, die wunderbare Ringelsöckchen strickte. Er hatte sogar eine Bierdeckelsammlung und war für Halma zu begeistern. Nur war da nichts weiter außer Halma.“

      „Verstehe!