Herzen, denn das war genau jener handgeschriebene Zettel, den sie vermisst hatte. Glücklicherweise hatte er nicht weiter draufgeschaut.
„Oh ja, danke, vielen Dank“, entgegnete sie, verstaute ihn hastig und eilte zu ihrem Auto, einem kleinen grünen Chevi, den sie stets um die Ecke parkte.
Als sie losfuhr und noch einmal am Haupttor vorbeikam, bemerkte sie im Rückspiegel, dass er noch immer vor der Tür stand und ihr auffallend lange nachschaute. Nun stand zu befürchten, dass der Doktor neben ein paar Ohrfeigen von seiner Frau noch von ihrer späten Anwesenheit erfuhr. Damit wäre für ihn alles klar.
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3. Kapitel
„Verschwinde!“, rief Carola und warf ihren Pantoffel nach dem Schatten, der soeben über die Gardine huschte.
Obwohl früh zu Bett gegangen, fand sie keinen Schlaf. Immer wieder dachte sie nach und konnte nicht verstehen, warum alles so gekommen war. Zunächst der harmlose Tag, dann dieser schockierende Abschluss mit ihrem Anruf und nun dieser Schatten. Was hatte das zu bedeuten? Glaubte sie ihn nur zu sehen, wie Prof. Weidenfeller immer behauptete und damit ihre kognitiven Fähigkeiten bezweifelte, oder handelte es sich tatsächlich um eine reale Erscheinung? Natürlich war er real! Nur so war sein Ausbleiben nach dem Pantoffelwurf zu erklären.
Und doch war sie sich nicht sicher, wie sie überhaupt in letzter Zeit an vielem zweifelte. Daran war nur Hendrik schuld. Er stellte ihr nach, aber stets so, dass sie es nicht beweisen konnte. Das war Absicht wie alles, was ihr in letzter Zeit komisch vorkam. So treibt man jemanden in die Irre, um ihn loszuwerden. Das ist ein alter Trick. Doch sie würde ihn stellen und überführen und damit all das Lügengerüst zum Einsturz bringen. Es war nur eine Frage der Zeit.
Sogleich nahm sie zwei Diazepam, obwohl nur eine verordnet war. Aber sie spürte eine große Verunsicherung und befürchtete eine Verschlimmerung der Symptome. Professor Weidenfeller mochte sie nicht aufsuchen, da sie ihm misstraute. Wie sollte sie ihm den peinlichen Anruf bei Hendriks Frau erklären? Völlig unmöglich. Das war ohnehin nur eine dumme, unüberlegte Reaktion, die alles nur noch verschlimmerte.
Natürlich würde Hendrik sie sofort zur Rede stellen und wie dumm stünde sie dann da. Was bliebe, als ihr Bedauern zu äußern und auf ihre überreizten Nerven zu verweisen. Er wiederum könnte das zum Vorwand nehmen und mit Bedauern jede weitere Zusammenarbeit aufkündigen. Sie mochte gar nicht daran denken. Eher würde sie alles beenden.
Nur deshalb steckte dieser an ihn adressierte Brief in ihrer Tasche. Sie hatte ihn vor längerer Zeit in einer trüben Stunde verfasst, als sie sich die Adern öffnen wollte. Darum auch jene hochwirksame Dosis in ihrem Schrank, welche, aus sicheren Mitteln zusammengestellt, garantiert schmerzfrei wirkte. Diesen Brief würde man bei ihr finden und den honorigen Dr. Hendrik Willberg in arge Schwierigkeiten bringen. Dann er würde so manches erklären müssen, womit er garantiert nicht mehr rechnete. Aber das sollte sie dann nicht mehr kümmern. Er hätte es nicht anders verdient.
Noch aber war es nicht so weit, wollte sie eine Antwort auf die alles entscheidende Frage: Empfand er etwas für sie oder existierte alles nur in ihrer Einbildung?
Sechs Uhr erhob sie sich, duschte eiskalt, um die bleierne Müdigkeit der abendlichen Tabletten zu verscheuchen und machte sich auf dem Weg zum Büro. Punkt sieben traf sie ein, setzte sich wie immer an den Monitor und legte sich bereits die Worte zurecht, womit ihr Fehltritt zu entschuldigen wäre. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. All die Erklärungen und Ausflüchte erschienen ihr plötzlich dümmlich und unsinnig, so dass eine Blamage zu befürchten war. Sie konnte nicht mehr verstehen, wieso alles so gekommen war. Wie konnte sich dieser Mensch nur in ihr Herz graben, obwohl er ihr gegenüber niemals ein wirkliches Interesse bezeigte. Er benutzte sie doch nur, um sich zu profilieren und hatte ihre Gefühle gar nicht verdient! Eigentlich sollte sie ihn verabscheuen, diesen Langweiler, der mit Sicherheit Sockenhalter trug und beim Ausziehen das Licht löschte. Womöglich trug er ein Mieder und hatte schon die Dritten auf dem Nachttisch. Nein, es musste beendet werden! Sonst kam sie nie zur Ruhe!
Nach und nach registrierte sie an den Eincheckzeiten das Eintreffen der Kollegen. Durch eine illegale Software hatte sie schon seit längerem Zugriff auf ihr Dienstzeitsystem und führte seither eine akribische Statistik1. Jetzt kam die Kosinski, gefolgt von einer Frau Riemann - übrigens eine unmögliche Tratschtante aus dem Revisionsbereich, mit der sie schon mal wegen einer Meinungsverschiedenheit im Clinch lag. Kurz darauf erschien auch Hendrik beinahe zeitgleich mit diesem widerlichen Peter Wachtel. Zweifellos hatte er ihn an der Tür abgepasst und es war klar, worüber sie jetzt redeten. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis die Tür aufflog und ihr Chef sie mit nachdrücklicher Geste zu sich bäte. Das tat er immer, wenn etwas keinen Aufschub duldete, vor allem aber mit solchem Nachdruck, dass es auch andere mitbekamen.
Doch zu ihrer Verwunderung passierte nichts, keine auffliegende Tür, weder Anruf noch Mail. Selbst nach einer Stunde blieb noch immer alles ruhig. Das war schon sehr beängstigend. Aber womöglich erwartete er eine Entschuldigung in aller Form, das heißt, sie müsste nun vor ihn hintreten und alles gestehen. Natürlich würde ihm dabei seine Gespielin den Kaffee servieren und er wiederum hätte keine Eile, sie fortzuschicken, schon um die Unerträglichkeit dieses Augenblicks zu steigern. Genau darauf zielte es ab. Eine solche Geschmacklosigkeit war typisch für beide.
Bei dieser Vorstellung zog sich ihr der Magen zusammen und sie rannte aus dem Zimmer über den Flur zur Toilette. Zum Glück war sie von niemandem bemerkt worden. Doch der Krampf in ihrer Kehle wurde unerträglich. Ihre Selbstdisziplin begann zu bröckeln. Das Haar klebte an ihrer Stirn, ihre Wangen glühten. Eine dunkle Furcht stieg in ihr auf und sie musste sich übergeben. Nachdem sie allmählich den Kopf wieder hob und in den Spiegel starrte, war da ein kreidebleiches Gesicht zu sehen. Die Frisur war zerzaust und das Make-Up verschmiert. So konnte sie ihm unmöglich unter die Augen treten. In aller Eile richtete sie sich so gut es ging wieder her und trat einigermaßen gefasst wieder auf den Flur.
Dort lief ihr prompt Maren Kosinski über den Weg. Dieses Miststück hatte offenbar nur darauf gelauert und die unter dem Arm klemmende Postmappe war nur ein Alibi. Natürlich gingen sie grußlos aneinander vorüber und doch hatte Carola das unbestimmte Gefühl, sie würde von ihren Blicken noch verfolgt.
Im Zimmer zurück, starrte sie sofort auf den Monitor, doch noch immer keine Nachricht. Was hatte das zu bedeuten? Wenn dieser Doktor eins plus eins zusammenzählen konnte, musste ihm alles klar sein. Wenn nicht, plante er etwas. Noch eine weitere Stunde verging, ohne dass etwas geschah. Ständig wechselte ihr Blick zwischen Uhr und Tür. Da hielt sie es nicht länger aus und raffte eilig ein paar zum Signieren vorbereitete Dokumente zusammen. Noch einmal richtete sie Kleidung und Haar und begab sich auf kürzestem Wege ins Chefbüro. Natürlich war dieser Vorwand in höchstem Maße fadenscheinig. Doch das war ihr egal. Jetzt musste eine Entscheidung her.
„Ah, Frau Ritter“, grüßte Hendrik mit einem schwachen Lächeln, als sie sein Zimmer betrat. „Ich hatte gerade an Sie gedacht, als ich die Kalkulationen zur Karstadt-Akte noch einmal durchging.“
Es folgten seiner Art gemäß einige belanglose Kommentare, die in ihrer Erregung aber völlig untergingen. Von seiner Freundlichkeit irritiert, wusste sie damit nichts anzufangen. Entweder war es eine Finte oder er besaß ein verdammt dickes Fell. Darüber völlig perplex trat sie von einem Bein auf das andere und hielt noch immer die Dokumente in der Hand, die sie ihm doch eigentlich vorlegen wollte. Zu allem Unglück fielen diese jetzt auch noch herunter, wobei sich eine Heftklammer löste und mehrere Blätter in weitem Bogen auseinanderglitten.
„Oh Verzeihung, ich bin untröstlich“, stammelte Carola und kauerte sofort nieder, um die Blätter aufzusammeln. Da aber einige ziemlich weit unter seinen Schreibtisch gefallen waren, musste sie sich doch sehr strecken. Selbstverständlich kam ihr Dr. Willberg sogleich zu Hilfe, indem er sich nicht scheute, ebenfalls von der Seite aus unter den Tisch zu kriechen. Richtig komisch war das und wären sie jetzt entdeckt worden, hätte man sicher sonst etwas vermuten können. Aber diese plötzliche Nähe führte zu einer unerwarteten Beklommenheit, wie damals bei ihrem Zusammenstoß.