Kristian Winter

Liebeswahn


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darin, was ihn irritierte und ängstigte. So hatte er seine Assistentin noch nie erlebt und wollte es auch nie wieder, denn es war ihm unheimlich. Schon deshalb wagte er nicht, sich zu regen, um die Situation nicht noch zu eskalieren. So hockten beide einige Sekunden einander gegenüber, unbeweglich, ohne die Augen voneinander abzuwenden und doch zugleich unfähig, diese Situation zu beenden.

      Keiner von ihnen hätte in diesem Moment einen Grund dafür benennen können und doch schienen sie zu spüren, dass etwas Seltsames zwischen ihnen geschah. Während Hendrik, eher peinlich berührt, sich genötigt fühlte, diesen Zustand so schnell wie möglich zu beenden, schien Carola davon fasziniert. Sie kam davon einfach nicht los, so dass sie, von dieser unerwarteten Nähe übermannt, plötzlich von einer heißen Welle durchschauert wurde, die schlagartig all ihre Hemmungen vertrieb. Ihr Atem geriet ins Stocken, ihre Lippen zuckten und es übermannte sie das unbezwingbare Verlangen, ihn jetzt zu berühren, zu streicheln, ja gar zu küssen. Nur der Umstand, dass beide ein Tischbein trennte und er intuitiv zurückwich, verhinderte das.

      Carola aber setzte sofort nach und das so weit, bis er schließlich rücklings gegen den Stuhl stieß und nicht mehr weiter konnte. Damit nicht genug. Plötzlich näherte sich ihm ihr leicht geöffneter Mund. Die Zungenspitze glitt über ihre Lippen. Oh Gott, was tat sie da? Schon spürte er ihren Atem, ihre Wärme und ein Schrecken malte sich in sein Gesicht. Nur noch eine Winzigkeit und ihre Lippen würden sich berühren. Ihr oberer Blusenknopf war nicht zufällig aufgesprungen und der zurückgeglittene Rock gab den Blick auf ihren weißen Schenkel frei. Ihr Atem roch nach Minze und ein leichtes Lächeln ließ ihre perlengleich aufgereihten weißen Zähne schimmern. Zu allem begann ihn jetzt noch eine Wolke von Moschus zu umnebeln, jener Hauch des willfährigen Weibes, das auf die Befriedigung heißer Begierden hofft. Nun zog dieses Luder noch das rechte Knie an und machte Anstalten, es zwischen seine Beine zu setzen, zweifellos, um sich auf diese Weise obszön zu positionieren.

      Dem Bedrängten verschlug es die Sprache und er wagte nicht, sich zu rühren. Was erwartete diese Frau von ihm? Etwa das, was er vermuten musste? Falls ja, war sie nicht mehr bei Verstand und brauchte dringend Hilfe. Allein die Vorstellung, sie könnte sich jetzt in hemmungsloser Lust auf ihn stürzen, verschreckte ihn. Freilich hatte er schon einige Male das Gefühl einer gewissen Annäherung verspürt, hielt es aber immer für eine Irritation. Jetzt bekam er es mit der Angst.

      Dann ertönte jedoch plötzlich ein Poltern von nebenan und alles löste sich blitzschnell auf. Als sei Carola zur Besinnung gekommen, zog sie sich zurück. Hastig nahm sie ihr Knie fort, erhob sich, richtete Sachen und Frisur und gab sich ganz bieder. Der Doktor, der ebenfalls sogleich aufgestanden war, nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz und tat, als wäre nichts geschehen. Nun erst legte sie ihm die Unterlagen vor.

      „Es tut mir leid“, seufzte sie. „Aber ich habe mich wohl etwas gehen lassen.“

      „Aber was reden Sie, Frau Ritter“, erwiderte er, ohne sie anzusehen. „Wir haben uns wohl beide etwas vergessen.“

      „Oh nein! Sie müssen sich nicht entschuldigen, es ging von mir aus, obgleich ich wünschte, es wäre umgekehrt gewesen.“

      Der Doktor überging diese Bemerkung mit dem Verweis auf die zu erledigenden Aufgaben. Doch Carola ließ nicht locker. „Wenn wir gerade dabei sind - ich hatte schon immer das Bedürfnis, mit Ihnen darüber zu reden, nur fehlte mir stets der Mut.“

      „Verzeihung, aber worüber wollten Sie mit mir reden?“, fragte er, als hätte er nicht zugehört.

      „Sehen Sie, genau das ist das Problem“, murmelte sie ungewöhnlich hastig und blickte errötend zur Seite. „Wenn Sie mich so konkret fragen, kann ich es gar nicht sagen, obwohl ich glaube, Sie wissen genau, was ich meine.“

      Der verblüffte Doktor wusste darauf nichts zu erwidern. Aber da er ihre Allüren kannte, fand er nichts dabei. Dann jedoch erinnerte er sich seiner Pflichten und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden.

      „Was hat mein Befinden damit zu tun?“, brauste die Angesprochene sogleich auf. „Meine Probleme sind davon völlig unabhängig!“

      „Das haben Sie missverstanden“, versuchte er sogleich zu beschwichtigen. „Meine Besorgnis gilt nur ihrer Veränderung. Ehrlich gesagt, habe ich oftmals keine Erklärung für Ihre Reaktionen. Sie tun, als wäre etwas zwischen uns und ich weiß beim besten Willen nicht, wie Sie darauf kommen!"

      „Das ist auch kein Wunder, angesichts Ihres widersprüchlichen Verhaltens mir gegenüber!“

      „Wie bitte?“ Der Doktor sah sie mit höchstem Erstaunen an. Da sie darauf jedoch nicht antwortete, schlug er vor, das Gespräch zu beenden. Doch Carola wollte ihm unbedingt noch einiges sagen, bevor sie wieder der Mut verließ. Sie hatte auch schon etwas auf der Zunge, schluckte es dann jedoch herunter. Wie verfluchte sie jetzt ihre Schwäche, die ihm kaum verborgen blieb.

      Schon wollte sie gehen, besann sich aber noch einmal und warf ihm ganz unverblümt Feigheit vor der Wahrheit vor. Dabei war das gar nicht ihre Absicht gewesen. Vielmehr lag ihr die ganze Zeit eine Anspielung auf ihr Telefonat auf den Lippen. Aber seine Art brachte sie wieder einmal völlig durcheinander.

      „Frau Ritter, ich bitte Sie! Was soll das jetzt?“, fragte er sichtlich genervt. „Ich glaube nicht, dass wir es nötig haben, uns grundlos in irgendwelchen Vorwürfen zu ergehen!“

      „Grundlos?“ Carola unterdrückte ein Lachen. „Dann will ich Ihnen mal was sagen! Ich bin die einzige, die Rücksicht auf Sie nimmt, während andere hinter Ihrem Rücken intrigieren! ... Sie brauchen mich gar nicht so entsetzt anzustarren – ich weiß Bescheid! Glauben Sie, es ist angenehm, so etwas ständig zu ertragen? Dabei versuche ich stets, mein Bestes zu geben! Niemals habe ich mich über etwas beklagt, aber was die menschliche Seite betrifft, verstehen Sie - die Seele!“ Sie kramte jetzt ein Taschentuch hervor und drückte es in die Augen.

      „Ich bitte Sie, so beruhigen Sie sich doch! Ich weiß gar nicht, was Sie haben!“ Erst jetzt bemerkte der Doktor ihren Zustand und war entsetzt.

      Carola sah ihn verwundert an. „Wenn Sie das wirklich nicht wissen, tun Sie mir leid, Herr Dr. Willberg! Dabei hatte ich immer gedacht ... dass Sie, nun ja, dass Sie …!“ Hier brach sie ab und kam erneut ins Heulen.

      „Was meinen Sie?“, fragte er jetzt beinahe unbeherrscht, denn er verspürte nur wenig Lust, dieses Katz- und Mausspiel noch zu verlängern.

      Plötzlich wurde ihr Blick ganz weich und sie umfasste seine Hände gleichsam einem Versuch, etwas wieder gut zu machen. „Verstehen Sie denn nicht? Ich will Ihnen nichts Böses! Ich bin ihre Partnerin! Doch Sie bemerken es nicht. Dabei versuche ich es Ihnen jeden Tag zu beweisen! Meinen Sie nicht, dass es an der Zeit wäre für ein anderes Verhältnis, vielleicht so wie früher? Stattdessen behandeln Sie mich wie ein Neutrum und haben nur Augen für diese … diese Person dort draußen!“

      Der Doktor wirkte wie erstarrt. Er wagte nicht zu glauben, was er da hörte und noch weniger, was ihm ihre Körperhaltung und Mimik signalisierte. So hatte er sie noch nie erlebt. Schon erwog er, jemanden zu seiner Sicherheit hereinzubitten, denn er fürchtete ihre Unbeherrschtheit. Was war nur in sie gefahren, sich derart zu vergessen?

      „Wissen Sie, ich habe Sie schon oft beobachtet und bemerkt, dass ihr Gesicht genau das ausdrückt, was ich empfinde“, fuhr Carola fort. „Das kann kein Zufall sein! Daher weiß ich, dass Ihre Unmoral nur Folge ihrer Ausweglosigkeit ist, vielleicht gar Verzweiflung. Also dachte ich mir, ich meine, was wäre so schlimm, wenn wir“ … Sie geriet ins Stocken und suchte nach passenden Worten. „Ich will damit nur sagen, dass ich, verglichen mit Frau Kosinski, die deutlich bessere Alternative wäre.“

      „Wie bitte? Wie darf ich das verstehen?“, war das Einzige, was der Doktor jetzt noch herausbrachte.

      „Ich möchte gern, dass Sie mich nicht nur als Ihre Assistentin betrachten“, sagte sie jetzt überaus deutlich.

      „Soll das etwa bedeuten…?“ Er brachte den Gedanken nicht zu Ende.

      „Ja und? Wäre das so schlimm?“

      „Sie sind ja total verrückt geworden, völlig übergeschnappt!“,