Gerhard Ebert

WOLLUST ACH - Uwe, der Student


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gewesen, außerhalb jedoch durchaus problematisch. Zu solch demonstrativer Nacktheit, gestand sich Uwe, hätte er nicht den Mut gehabt. So nahm er denn die Hitze in Kauf und trabte weiter.

      Inzwischen war er beim Circus Barlay angekommen, der sich auf einem geräumten Trümmergelände einquartiert hatte und mittlerweile sesshaft geworden war. Eine schmucklose niedrige Außenfront mit vier Portalen, darüber in roten Versalien das Wort Barley, und dahinter sichtbar ein hölzerner Rundbau mit Kuppel. Seine Wirtin, erinnerte er sich, hatte jüngst geschwärmt vom Zirkus. Das sei eine tolle Sache für Berlin. Er hingegen spürte wenig Neigung auf Löwen und Elefanten. Er spazierte weiter.

      Im Hintergrund nun das frisch herausgeputzte Hotel „Johannishof“, ein schmuckloses Geschäftshaus eigentlich, jetzt vornehm einladend. Doch welche Kontraste! Auf einmal unübersehbar Folgen des Krieges. Uwe war an der Ruine eines ehemaligen Kaufhauses angelangt. Und dort lockte sein Ziel. Nur noch um die Ecke: ein mäßig großer Platz, auf den die Oranienburger Straße und die Linienstraße münden.

      Der erste Eindruck: Tristheit. Ein paar Kneipen, zwei Kioske, Straßenbahn-Haltestelle, normaler Großstadtbetrieb. Links drüben die Linienstraße. Uwe schritt hinüber, bog in die Straße ein. Ziemlich trist auch hier. Meist drei Stockwerke hohe, unansehnliche Häuser. Eigentlich eine enge, schmutzige Gasse, fand Uwe und bummelte neugierig weiter. Was hatte er eigentlich erwartet? Er fragte es sich plötzlich und wusste es nicht. Hatte er ernsthaft geglaubt, hier würden am helllichten Tage Dirnen flanieren? Er kehrte um. Hatte er etwas Wichtiges übersehen? Jetzt schaute er sich die Haustüren genau an. Aber auch da keinerlei Anzeichen für irgendeine käufliche Nudität, jedenfalls keines, das er dafür hätte halten können. Nun betrat er eine Kneipe. Biergestank, Zigarettenqualm. Uwe spürte sofort, dass er hier absolut nicht hingehörte. Aber bei der Hitze würde ein Bier gut tun. So hielt er die kritischen Blicke der verknöcherten Alten aus, die da herum saßen. Sich sonderlich umzuschauen, lohnte nicht. Er starrte ins Bier und grübelte.

      Hier war nichts zu holen! Welch anregende Aussichten hingegen bei ihm im Koffer in der Dunckerstraße! Plötzlich hatte es Uwe sehr eilig, zur Straßenbahnlinie 46 zu kommen. Sie zuckelte heute besonders langsam, und er ärgerte sich, nicht doch S-Bahn gefahren zu sein. Wenn in ihm der Gedanke an Selbstbefriedigung erst einmal erwacht war, fiel es meist sehr schwer zu widerstehen. Da konnten ihn nur unerwartete äußere Umstände abhalten. Was ihm diesmal nicht widerfuhr. Abends zur Vorstellung dann, diesmal im Maxim Gorki Theater, war er schlaff und dekonzentriert. Die Darsteller hätten wie die Götter spielen können, er hätte es nicht mitgekriegt.

      Welch absoluter Anfänger Uwe in Sachen Theater war, wurde ihm schmerzlich bewusst, als er am nächsten Abend im Deutschen Theater die Aufführung von Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ sah. Was da auf ihn einstürmte, hieß ehrlicherweise: Theater neu lernen, Theater neu begreifen! Zu ungewöhnlich, zu überwältigend waren die Eindrücke.

      Als der Schlußbeifall verklungen war, blieben die drei erst einmal sitzen. Dieser Moment des Innehaltens war einfach nötig. Dann bat Christa, noch zusammen zu bleiben, noch zu reden. Uwe und Ursula stimmten sofort zu. Im verqualmten Theaterrestaurant fanden sie Platz. Wieder blieb es zunächst still zwischen ihnen. Jeder war noch mit seinen Eindrücken beschäftigt. Schließlich brach Christa das Schweigen. Geradezu kategorisch sagte sie:

      „Ab heute, Leute, bin ich Brecht-Anhänger! Mit Haut und Haaren!“

      Das war, als hätte sie einen Fehdehandschuh nach Belvedere geworfen; denn dort vertrat Prof. Kuckhoff eine abwartende Haltung. Er kreidete Brecht an, dass seine Courage uneinsichtig bleibt, dass sie aus ihrem Unglück nichts lernt. Brechts Auffassung war, das Publikum solle Erkenntnis gewinnen, nicht die Courage; denn sie könne in ihrer Zeit und unter den Bedingungen des Krieges nichts lernen außer der Kunst zu überleben. Uwe hatte sich mit dieser Problematik immerhin schon so weit beschäftigt, dass er heute hatte nachvollziehen können, worum es in dem Streit ging. Daher stimmte er Christa jetzt ohne irgendwelche Hintergedanken zu und sagte:

      „Brecht-Anhänger ist vielleicht gleich bisschen zu weit gegangen, aber ich muss sagen, ja, ich bin auch hingerissen. Eine ästhetisch so vollkommene Inszenierung überzeugt hundertprozentig.“

      Nun blickten beide neugierig auf Ursula. Sie zögerte.

      „Die Aufführung ist phantastisch, keine Frage“, sagte sie schließlich, „aber deswegen werfe ich doch die klassische Dramaturgie von Aristoteles bis Lessing nicht über Bord.“

      „Die Welt verändert sich“, meinte Christa prompt, „auch das Theater“.

      „Da bin ich nicht so gläubig“, konterte Ursula.

      „Ist das eine Frage des Glaubens?“ fragte Uwe.

      „Nein, eine Frage des Wissens!“ konstatierte Christa.

      Für einen Moment schien es, als kämen sich Uwe und Christa an diesem Abend doch noch nahe. Aber das geschah nur bezüglich ihrer Statements. Nachdem die ausgetauscht worden waren, lösten sich ihre Positionen wieder in Alltäglichkeit auf. Es war ohnehin Aufbruch angesagt; denn das Restaurant schloss zur Mitternacht.

      Als Uwe wenig später beim Umsteigen im Bahnhof Gesundbrunnen an dem bestimmten, zur dieser Zeit geschlossenen Kiosk vorbei kam, fällte er kein gutes Urteil über sich. Ist der Mensch grundsätzlich nicht lernfähig? Etwa gar, weil nach wie vor die Triebe eines Tieres in ihm herrschen? Uwe kroch ins Bett ohne nachzuschauen, ob das heiße Papier noch an Ort und Stelle war.

      7.Hast du Lust?

      Am letzten Tag ihres Berufspraktikums verließen die drei Studenten das Theater am Schiffbauerdamm wehmütig. Sie hatten gemeinsam viel für ihre späteren Berufe lernen können. Nun aber trennten sich ihre Wege. Das Studienjahr war zu Ende. Das hieß: Ferien zu Hause. Uwe hatte sich allerdings vorgenommen, nicht sogleich loszufahren, sondern am Abend noch einmal in der „Melodie“ im Friedrichstadt-Palast sein Glück zu versuchen. Die Bilanz in seiner entscheidenden Lebensfrage war ja eher düster. Er war so gut wie überhaupt nicht voran gekommen, sein Lustgewinn erbärmlich. Er wusste es genau. Mit papiernen Brüsten und Schenkeln vor den Augen hatten sich seine verzweifelten Onanie-Praktiken zwar geringfügig aufbessern lassen, aber eine Lösung für einen geilen jungen Mann war das nicht.

      So traf Uwe denn diesmal vor Ort ein, als just geöffnet wurde und suchte sich in dem geräumigen, noch düster-leeren Tanzlokal einen günstigen Platz unmittelbar am Parkett. Der Platz war auch deswegen günstig, weil zu später Stunde regelmäßig ein kleines Varieté-Programm geboten wurde, meist von Künstlern, die gerade oben im Palast gastierten. Und wenn etwa eine attraktive Tänzerin dabei sein sollte, würde er ihr auf alle Fälle besonders nah sein. Die frühe Platzwahl hatte freilich auch einen elenden Nachteil. Uwe konnte sich nicht aussuchen, wer an seinem und wer nebenan an den Tischen Platz nahm. Sollten es nur Westberliner sein, wäre er arg angeschmiert.

      Langsam füllte sich der verhalten beleuchtete weitläufige Raum. Doch vorerst wurde sein Tisch gemieden. Lag es daran, dass Uwe ein Bier vor sich stehen hatte? Logisch, dass sich Damen nicht zu einem offenkundig mittellosen Herrn setzten. Paare schon eher. Die kümmerte das nicht, die waren mit sich selbst beschäftigt. So kam es denn auch. Es näherte sich ein Paar, blieb stehen, schaute sich unschlüssig um. Uwe tat so, als würde ihm das überhaupt nichts angehen, registrierte jedoch im gleichen Moment, dass das Platzangebot jetzt von Minute zu Minute schrumpfte. Noch zögerten die zwei, dann fragte der Herr, übrigens auffallend beleibt für sein Alter, ob die Plätze noch frei seien.

      „Selbstverständlich“, reagierte Uwe.

      Nun war am Tisch nur noch der Stuhl neben Uwe unbesetzt. Durchaus ein günstiger Platz, nämlich nach links nah am Parkett, nach rechts nah an der Bar. Aber es fand sich kein Interessent. Vielleicht, weil im Moment nur Pärchen auf der Suche waren. Uwe schaute sich zunehmend neugierig um. Ihm fiel eine junge Frau auf, die seit geraumer Zeit langsam sondierend durch die Reihen ging und offenbar nicht nur nach einem Platz Ausschau hielt, sondern auch nach den Männern, die in der Nähe saßen. Sie war in einem dunkelgrünen Kleid ganz und gar unauffällig gekleidet. Ohne Eile schlenderte sie heran, blieb