Nicolà Tölcke

Der Duft der indischen Nelke


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wird Zeit, dass ich interveniere und Fragen stelle. Sie müssen sich über so einiges klar werden.“

      Es regnet nicht mehr. Dafür pfeift ein ausgewachsener Sturm um den Turm. Seltsam! Im Moment steht er wie der Fels in einer Brandung. Kein Rucken und kein Beben.

      „Welche Gefühle haben sie, wenn sie jetzt an Evelyn denken?“

      „Ich bin sehr sentimental. Sie hat mein Frauenbild geprägt. Alle die, die folgten, habe ich bewusst oder unbewusst mit ihr verglichen!“

      „Das ist kein Gefühl! Das geht in Richtung Analyse! Sagen Sie mir, was sie empfinden. Sie müssen doch noch die Situation spüren, die wir gerade eben zurückgeholt haben.“

      Doch wie in einem Flashback einer Droge sitze ich augenblicklich im Haus meiner Eltern unten am Telefon im Esszimmer.

      „Hier bin ich!“, höre ich ihre Stimme aus dem Hörer.

      „Was machst du denn so heute am zweiten Weihnachtstag?“

      „Evelyn! Damit habe ich gar nicht gerechnet. Ich bin allein zu Hause. Meine Eltern sind mit meiner Schwester bei Verwandten. Und was machst du?“ Ich räuspere mich, habe offensichtlich vor Überraschung oder Aufregung einen Kloß im Hals.

      „Ich bin auch allein zu Hause! Rate mal, was ich anhabe.“

      „Keine Ahnung. Einen Pulli und `nen Rock?“

      Es entsteht eine kleine Pause und dann flüstert sie:

      „Ich liege auf meinem Bettchen und habe gar nichts an. Möchtest du nicht zu mir kommen und mich zudecken?“

      Kalt und metallisch schallt mir seine Stimme entgegen.

      „Und? Sind sie zu ihr gegangen?“

      „Ja! Es war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Es war so wunderbar, wie in einem romantischen Märchen! Ich kann die grenzenlose Zartheit ihres Körpers erahnen. Jetzt, wo ich sie nochmal erleben durfte, bin ich überwältigt von allem. Sie war mein blonder Engel, meine Elfe. Sie passte wunderbar zu den Elben im Herrn der Ringe. Aber das habe ich ja schon gesagt. Wir waren doch beide furchtbar jung. Nie wieder …“ Mir steigen Tränen in die Augen, so als wüsste ich in diesem Moment schon ihr Schicksal.

      Er fragt kurz:

      „Warum haben Sie sie nicht wiedergesehen?“

      „Sie hatte mir zu meinem Geburtstag die Langspielplatte The Turning Point von John Mayall geschenkt. Sie war nur zwei kurze Stündchen geblieben. In ihrem weißen Kleid sah sie umwerfend aus. Wir saßen beide hinten in der Ecke auf der großen Couch im Sousterrain im Herrenzimmer. Davon rührt das einzige Foto, das ich noch von ihr habe. Ich glaube, ich habe mich während dieser zwei Stunden um niemanden sonst gekümmert.“

      „Verdammt nochmal! Das wollte ich jetzt nicht wissen!“ Wäre er ein Stier, käme ihm jetzt Dampf aus den Nüstern.

      „Was ist passiert nach der Episode bei ihr zu Hause zu Weihnachten?“

      „Ein paar Tage danach hat sie mir einen Brief geschickt und ein Bild von sich hineingelegt. Sie hatte sich die wunderbaren blonden Haare kurz schneiden lassen und mir geschrieben, dass wir uns nie wieder sehen würden. Ich sei entschieden zu gut für sie und ich sollte sie besser nie ganz und gar kennenlernen. Zum Anfang des neuen Jahres würde sie auf eine andere Schule wechseln. Ihr Abschiedssatz war: Mein lieber romantischer Junge! Ich werde Dich nie vergessen!“ Moi non plus! weinte ich vor mich hin, als ich im Garten das Bild und den Brief verbrannte.

      Am Fenster gibt es ein platschendes, knirschendes Geräusch. Ein Fregattvogel ist gegen die Scheibe geflogen. Er muss sich dabei das Genick gebrochen haben, denn der Kopf zeigt in einem unmöglichen Winkel nach oben. Seine Augen glänzen mit einer traurigen Leere, während der leblose Körper langsam nach unten gleitet.

      Begleitet wird der Abgang dieses gefiederten Gesellen von an Konfetti erinnernden, weiß gefrorenen Kristallen, die vom Sturm durch die Nacht gewirbelt werden.

      Image 3 Auf einem roten Kimono

      „Wir wechseln jetzt den Standort! Kommen Sie mit!“

      Er zeigt mit einer Hand in den hinteren Teil der Kajüte. Die Tür, die dort geöffnet ist, war mir vorher nicht aufgefallen. Wir gehen nacheinander einen matt beleuchteten Gang entlang. Ich folge ihm wie in Trance und habe das Gefühl, als ob wir leicht in Serpentinen abwärts laufen. Ein mächtiges Dröhnen ist zu vernehmen, so als ob ein Ozeanriese einen Eisberg rammt.

      Er bleibt stehen und öffnet rechter Hand eine Tür.

      Ein Raum mit samtenem, braunem Bezug an Decke, Wänden und Boden. An der linken Längsseite steht eine Couch mit einer Leopardimitatdecke. Direkt an der Kopfseite befindet sich eine Stehlampe, die den Zeitsprung aus den 50er-Jahren schadlos überstanden hat.

      „Legen Sie sich nun hin. Aus Sicherheitsgründen muss ich sie an Armen und Beinen anschnallen.“

      Ich lege mich, so wie er es sich wünscht, und fühle mich augenblicklich entsetzlich schwer, so als wollte mein Körper durch die Couch hindurchfallen. „Wir haben ein weiteres Niveau erreicht.“

      „Was bedeutet das?“

      „Wir werden eintauchen in Ihre Welten. Ich will das mal so nennen. Ich injiziere Ihnen nun eine zerebral-projektive Substanz. Dadurch werde ich alle Denkvorgänge in Ihrem Gehirn auf dem Schirm da vorne miterleben können. Außerdem kann ich, so es nötig sein sollte, etwas aufzeichnen.“

      In der Tat ist auf der Stirnseite des Raumes ein riesiger Bildschirm zu sehen.

      Er lässt sich auf einem Sessel neben mir nach hinten fallen und fixiert mich mit stechendem Blick.

      „Schließen Sie die Augen! Sie entspannen sich jetzt. Alles wird leicht und leichter. Sie verschwinden im Zeitennebel. Ich weise Ihnen Liane. Sie sind mit Liane. Sie erleben Liane wieder, jetzt!“

      Der kleine Raum ist sehr plüschig gehalten. Die zwei Funzellampen erlauben keine klare Sicht. Die Wände und das geräumige Sofa, auf dem ich sitze, sind mit flauschigen Decken überzogen. Nebenan wechselt die Musikrichtung. Dancing Queen von Abba erfreut die Anwesenden. Die Mädchen, die sich auf der Drehscheibe den Zuschauern hinter den Fensterchen präsentieren, dürfen sich ihre Musik für ihre fünfminütigen Auftritte selber aussuchen und mitbringen. Auf der rechten Seite des Séparées ist eine Tür, die ich wie gebannt anstarre. Irgendwann wird sie sich öffnen. Die Musik hat ja gewechselt. Ihre Musik ist nicht die von Abba. Sie tanzt nach Pink Floyd. Dancing Queen kommt mir endlos vor. Plötzlich denke ich an die Fünf-Doppel-Acht. Ich habe die Taxe haarscharf am Parkverbot vorbei gegenüber am Theater des Westens geparkt. Schon oft hatte ich hier eine kleine Pause eingelegt, wenn ein Fahrgast zum Kudamm gebracht werden wollte. Gewöhnlich kann ich sie mittwochs während der Frühschicht bewundern. Ihr Standardsong ist Cymbaline. Außen am Rondell, wo die Kabinen mit den Fensterchen angeordnet sind, ist eine Showtafel mit vier Fotos angebracht. Jedes Foto hat am unteren Rand ein Namensschild und über dem Bild ein Lämpchen. Wenn das Lämpchen leuchtet, heißt das, dass das entsprechende Mädchen auf der Drehscheibe ist. Noch nie hatte ich mich getraut, zum Tresen zu gehen und der Frau dort einen Namen zu nennen und ihr die fünfzehn Mark für fünfzehn Minuten mit einer der Ladys im Séparée zu geben. Vielfältigen Fantasien habe ich nachgegeben, seit ich sie das erste Mal gesehen habe. Sie war im roten Kimono auf die sich drehende Bühne gekommen. Einen Moment war sie so stehen geblieben und hatte ins Rund zu uns Bewunderern geschaut und jedem Einzelnen zugelächelt, aufmunternd zugelächelt. Dabei war ihr ihr Kimono, wie es schien, völlig unabsichtlich langsam am Körper nach unten geglitten.

      Ein leises Quietschen ist zu hören, als sich die Tür langsam öffnet.

      Nur ihr Kopf mit den langen blonden Haaren ist zu sehen. Nach zwei, drei Sekunden scheint sie mich zu erkennen. Sie lächelt mich spitzbübisch an. Sie ist ganz vom roten Kimono umhüllt. Dann zieht sie eine kleine, weiße Eieruhr auf und stellt sie auf ein Tischchen