Nicolà Tölcke

Der Duft der indischen Nelke


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Kirche. Ein Club, der in unserer Gunst nicht gerade als coole Vereinigung verschrien ist. Klassenweit ist bekannt, dass einmal pro Woche, mittwochs, zwei sogenannte fromme Brüder Michaels Heim heimsuchen, um gemeinsam aus der Bibel zu lesen und zu beten, mit anderen Worten, zusammen den Herren zu preisen!

      Bevor die Kippe gänzlich ungepafft am Aschenbecherrand verglimmt, steckt sie sich Michael zwischen die Lippen, die er dann so zusammenpresst, als hätte er gerade eine für ein Pferd bestimmte Injektion in seinen Allerwertesten gerammt bekommen. Die Glut an der Spitze entflammt sich, doch was sich hinten am Filter der Peter Stuyvesant entwickelt, entlädt sich in einem gewaltigen Hustenanfall, denn Sloggi versucht just im Moment des Rauch-Inhalierens auf meine Reflektion bezüglich Papi Kurts Pantoffeln zu antworten. Sein Gesicht verschwindet für einen Moment in einer Rauchwolke, die an Nebelschwaden eines verruchten Edgar-Wallace-Streifens mit Blacky Fuchsberger denken lässt. Nun ja, ein nicht unerheblicher Anteil an Stuyvesant-Asche findet ein Zwischenlager auf Michas weinroter Wollhose, die ihm Mami Lilo im letzten Ausverkauf bei C&A als Dernier Crie erworben hat.

      „Gib mal Feuer Micha!“ Ich habe mir eine filterlose Gitanes aus meinem silbernen Zigarettenetui gezogen.

      Die brennende Kippe zwischen Ring-, Mittel- und Zeigefinger auf der einen Seite und andererseits gegen den Daumen gepresst, die Glut in der Innenhand spürend und somit das Vorbild eines rauchenden Humphrey Bogart mittelprächtig imitierend, so schleiche ich wie auf rohen Eiern Richtung Partyraum. Jörg hat meine Scheibe auf den Plattenteller gelegt. Oh Well entwickelt seinen rüden Charme und die farbige Lichtorgel entflammt vornehmlich im roten Spektrum. Für so ein Spektakel in meinem Zimmer würde ich morden, denke ich in mich hinein. Der Song ist nicht unbedingt geeignet, ein Tanzhit zu sein, denn bei weitem nicht alle Mitschüler sind auf der Tanzfläche zu finden. Die meisten sitzen plaudernd, knutschend oder sich langweilend auf den Stühlen, die rundherum an den Wänden des Raumes aneinandergereiht sind.

      Als ich die Ecke hinten links einmal quer durch den ganzen Raum ansteuere, wird es mir schwarz vor den Augen. Ich spüre urplötzlich eine kühle, weiche Handinnenfläche auf meinem Gesicht.

      „Wer bin ich?“, flüstert es von hinten. Ich drehe mich um und lerne die Bedeutung des Ausspruchs Mein Herz möchte vor Freude einen Satz machen am eigenen Leib kennen.

      Sie steht vor mir! Die blonden Haare fallen anmutig links und rechts an ihrem zarten, fein gezeichneten Gesicht entlang. Der Pony ist nach hinten gekämmt und wird von einer silbernen Spange gehalten. Der graue Rolli muss aus Mohair sein. Er endet auf der Taille über einem dunkelblauen Faltenrock. Ihre Schuhe oder Stiefel hat sie sicher drüben in der Küche gelassen, denn die bemalten Fußnägel blitzen durch die dunklen, transparenten Strümpfe.

      „Woll’n wir ein Schlückchen nehmen?“ Der Blick, den sie mir bei dieser Frage schenkt, raubt mir den Atem, nachdem mein Herz wieder normal zu schlagen scheint.

      „Ich hol‘ uns was, okay?“

      Rechts neben dem Eingang ist die Bar mit allem, was es für einen kleineren oder größeren Schwips bedarf. Auch ein rundes, üppiges Bowlengefäß lädt mit Pfirsichstückchen in prickelndem Wein zum Süffeln ein.

      Wir setzen uns auf zwei Stühle an der Längsseite.

      „Eigentlich mag ich keine Bowle, aber die hier ist sehr lecker!“ Sie schenkt mir ein spitzbübisches Lächeln und nimmt sofort noch einen größeren Schluck.

      „Was hast du ihm denn mitgebracht?“

      „Was Schönes zum Tanzen!“

      Offensichtlich hat Jörg auch die neue LP von den Beatles bekommen, denn der erste Titel von Seite eins beschallt den Raum. Come together, right now, over me ... Welche Chance wir doch haben, diese Zeit aktiv mitzuerleben, da solche musikalischen Meilensteine das Licht der Notenwelt erblicken.

      Ich schaue zu Evelyn und sie schaut zu mir, das ist wie Magie!

      „Komm!“, höre ich mich sagen und eile zur Tanzfläche.

      Sie nimmt noch mal, für mich viel zu lange, eine gutes Schlückchen der süffigen Bowle. Ich weiß ja, nach Come Together kommt Something, ein langsamer Titel mit George Harrisons samtener Stimme.

      Ob sie wohl bleibt, wenn der Rhythmus romantischer wird?

      Something in the way she moves attracts me like no other lover!

      Sofort spüre ich ihre Arme um meinen Hals, ihre Wange an meiner. Wo sind wir? Ist sonst noch jemand hier? Wie durch einen Schleier sehe ich, wie mich Christina verstohlen beobachtet. Diese Christina, die ich kenne, solange ich lebe, denn sie ist im gleichen Krankenhaus, in der gleichen Woche auf diese Welt geraten. Nach meinem Schulwechsel im zehnten Schuljahr von Frodslebonks Hermann-Ehlers- aufs Tannenberg-Gymnasium, wobei ich das neunte zweimal bestreiten musste, fand ich mich neben Sloggi und hinter Christina in der mittleren Reihe der

      Klasse 10s2 wieder. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre vergangen sind, in denen ich sie nicht mehr gesehen habe. Meine Mutter hatte immer lockeren Kontakt zu ihrer Mutter gehalten, aber das interessierte mich nur am Rande.

      Doch das alles ist mir in diesem Augenblick so unendlich egal! Mir ist in diesem Moment, als würde ich gerade neu geboren werden.

      Was das wohl für ein Parfum ist, das mir in alle Sinne zu steigen scheint und mir diese auch noch allesamt uneingeschränkt raubt?

      „Was hast du ihm denn nun geschenkt?“, flüstere ich ihr ins Ohr.

      „Je t’aime … moi non plus“, haucht sie zurück.

      Irgendjemand wechselt die Schallplattenseite.

      Here comes the sun, here comes the sun, and I say it’s all right … und wieder singt Mr. Harrison.

      Sie presst sanft ihre Stirn an meine. Ihre Augen sind wie ein Universum und ich gehe auf die Suche nach ihren Galaxien. Warum soll ich mich eigentlich noch zurückhalten? Mein Blick kommt von der Unendlichkeit zurück in diese Welt, indem er zielgenau auf ihrem vorsichtig rot gefärbten Mund zur Ruhe kommt. Dieser signalisiert einfach nur unwiderstehliche Anziehungskraft und so lande ich behutsam mit meinen Lippen auf ihren. Ihre Reaktion ist unverzüglich. Sie drückt den unteren Bereich ihres zierlichen Körpers behutsam aber doch sehr bestimmt gegen mich.

      „Wer hätte das gedacht?“ So laut, dass ich es hören muss, dringt Angelas Kommentar zu mir vor, aber eigentlich ist ihre Bemerkung für Christina gedacht. Sicher dürfte ihr klar sein, wie schnurz mir ihre Sicht der Dinge ist. Meine Realität schlägt gerade tausende nächtliche Fantasien um kosmische Längen!

      Evelyn ist ja unten herum nicht gefühllos, denn sie flüstert mir ins Ohr:

      „Böser Junge, was spüre ich denn da?“ Mit einem süffisanten Lächeln drückt sie geradezu sadistisch jenen Hügel, der nach einem weiblichen Planeten benannt ist, gegen meine pralle, nicht zu verbergende Lust auf sie. Das büßt du mir!, denke ich. Meine linke Hand gleitet von hinten unter ihren Rock, um sie in den kleinen Po zu zwicken.

      „Evchen! Du trägst ja nur eine Strumpfhose!“

      „Hubertchen, wenn du weiterhin Evchen zu mir sagst, deklariere ich meinen Po als Regiona non grata für dich!“ Ich kann nichts erwidern, denn ihre Lippen bedecken meine und ihre Zunge verlangt Einlass.

      Es ist saukalt in den Straßen, die von Jörgs Elternhaus zur Kiesstraße führen. Ein fast voller Mond bescheint uns den Weg, der allerdings völlig freiwillig von unendlichen Knutschpausen gepflastert ist. Vermutlich hätte ein Blinder mit einem Dutzend Krückstöcken die Strecke locker in einem Drittel der Zeit geschafft. Evelyn ist aber auch so etwas von flauschig in ihrem weiß-grau meliertem Teddymantel, dass ein schnelleres Vorankommen eine Sünde wäre.

      Kurz hinter der Mariannenstraße, dort wo die Kiesstraße einen Friedhof begleitet, bleiben wir erneut stehen. Sie drückt meine linke Hand, die trotz der Kälte ziemlich heiß scheint, und ihr Mund schenkt meinem Gesicht unzählige Küsse.

      „Hast du dir das so vorgestellt mit mir? Wusstest du, dass ich mich so auf dich stürzen würde?“

      „Du