Ava Patell

Der Kronzeuge


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er sich auf das Hier und Jetzt, nahm eine Shorts aus dem Kleiderstapel, zog sich aus und ging ins Bad. Nicht einmal die heiße Dusche vermochte es, seine verkrampften Muskeln zu entspannen, aber wenigstens sorgte sie dafür, dass er wieder gut roch. Das Hotel bot Duschbad und Shampoo an, das Aiden benutzte und das nach Orange und Minze duftete. Er versuchte sich auf all diese Details zu konzentrieren, die seinen Kopf davon abhielten, über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken.

      Aidens Blick fiel in den an den Rändern beschlagenen Spiegel und er hielt einen Augenblick die Luft an. Wer war dieser fremde, blasse, ängstlich schauende Mann darin? So kannte er sich selbst nicht. Er hatte sich für die Arbeit im Altersheim ein dickeres Fell angeeignet als er es noch während der Ausbildung gehabt hatte, doch von seinem Selbstbewusstsein und seinem sicheren Auftreten fehlte momentan jede Spur. Stattdessen hatte er rote Augen, unter denen sich der Schlafmangel dunkel abzeichnete. Seine Haut war blass, selbst die Lippen waren nur hauchzart gefärbt. Aiden sah sich selbst in die goldbraunen Augen, während er tief durchatmete.

      »Also gut«, flüsterte er. »Du lebst noch.«

      Die letzten Worte wiederholte er noch einmal, beinahe tonlos. Er nickte sich selbst zu, die Hände lagen auf dem kühlen Marmor des Waschtisches, fanden Halt in einer brüchigen Welt. Nur in der neuen Shorts und mit noch feuchtem Haar trat Aiden ins Wohnzimmer, zog sich eine Jeans und ein T-Shirt an. Das Shirt war vielleicht eine Spur zu groß und in die Jeans zog Aiden den Gürtel seiner eigenen Hose, doch ansonsten passten die Sachen gut.

      Seine nackten Füße standen auf dem weichen Teppich, bis er sie mit Socken überzog. Kein Kribbeln, bemerkte er. Für gewöhnlich konnte er neue Jeans nicht tragen, da sie ein unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut auslösten. Er musste sie immer einmal waschen, bevor er sie tragen konnte, doch das war hier nicht der Fall. Kein Kribbeln und Aiden fragte sich, woran das liegen mochte, ahnte aber bereits, dass das Preissegment eine Rolle spielen könnte. Vom Fernseher drang immer noch leise Musik und als sich Aiden jetzt im Schneidersitz auf die Couch setzte, umgab ihn ein völlig fremder Geruch. Orange und Minze, neue Kleidungsstücke, in denen ein undefinierbarer Ladengeruch haftete.

      Schwer schluckte Aiden. Seine eigene benutzte Kleidung lag als flacher Stapel auf dem Schreibtischstuhl und er unterdrückte mit Mühe den Impuls aufzustehen und an seinem Shirt zu riechen. Er ließ sich von den Musikvideos berieseln, bis seine Gedanken ihn wieder einmal in ihren Sog zogen. Bisher war er nie so nah an einem Verbrechen gewesen wie heute. Er selbst vermied es sogar, bei rot über eine Ampel zu gehen oder irgendwelche Rechnungen zu spät zu bezahlen und nun das. Womit hatte er das eigentlich verdient? Wieso gab es Menschen wie Cortez, die andere Menschen töteten? Aiden ließ seine Gedanken vorbeiziehen wie Wolken, betrachtete jeden einzelnen ohne genauer auf ihn einzugehen oder ihn zu untersuchen.

      ***

      Gabriel Barones Schritte waren fest auf dem engmaschig gewebten Teppich, der in jedem Stockwerk verlegt war, um die Schritte vor den Zimmern zu dämpfen. Nur kurz nickte er den zwei Personenschützern zu, die vor dem Zimmer Posten bezogen hatten, dann zog er die Karte durch das Schloss und drückte die Tür auf. Er wollte nach Hause und er hatte keine Lust auf Verzögerungen. Asali hatte sich um den Welpen gekümmert, wie sie es zugesichert hatte und nun war es an ihm, seinen Teil der Abmachung einzuhalten und den Mann so lange am Leben zu erhalten, bis er gegen Cortez aussagen konnte.

      Die Tür sprang ohne irgendeine Vorwarnung auf und vertrieb Aidens Gedankenwolken wie ein aufziehender Sturm. Ein großer Schatten erschien in dem kleinen Flurbereich und Aiden erkannte seinen Gastgeber selbst im Halbdunkel des Zimmers, als dieser in den Wohnbereich trat. Er war sich sicher, dass er die einnehmende Aura, die von Barone ausging, nie mehr vergessen würde. Gespannt sah er zu dem Mann auf, immer noch im Schneidersitz.

      Gabriels Blick fiel auf den Mann, der es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Er trug neue Kleidung. Und deutlich hochwertiger als die, die er noch zu Beginn des Tages getragen hatte. Asali verstand ihr Handwerk.

      »Wir gehen«, sagte Gabriel knapp und hoffte, dass der junge Mann nicht von der langsamen Sorte war.

      Wie von einem Marionettenspieler gesteuert erhob sich Aiden und verfluchte sich im nächsten Moment dafür. Sein Körper reagierte in diesem Angstzustand auf jede Ansage, die Gabriel Barone machte, obwohl Aiden das nicht wollte. Mit kraus gezogener Stirn schlüpfte er in seine Jacke und sammelte die Kleidung ein, sowohl alte als auch neue.

      »Wohin gehen wir?«, fragte er, als er in seine Turnschuhe schlüpfte.

      »Zu mir«, antwortete Gabriel knapp.

      Aiden schob die Kleidungsstücke in die kleine Reisetasche, die Asali ihm von ihrem Einkauf für ihn mitgebracht hatte und hob sie vom Sessel. Direkt am Gerät schaltete er den Fernseher aus, bevor er sich einen Ruck gab und von unten in Barones Augen sah. Beinahe leuchteten sie wie Aquamarine im Halbdunkel. Gabriels Blick lag fest auf ihm.

      »Gut.« Er nickte zur Tür und ging dann vor, hörte die Schritte Aidens hinter sich. Die zwei Personenschützer folgten ihnen in den Fahrstuhl und schließlich durch das Atrium des Hotels. Vor dem Hotel wartete der schwarze Wagen Gabriels und Frank, sein Fahrer, tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn.

      »Mr. Barone«, grüßte er und effizient wie er war, nickte er auch dem jungen Mann an dessen Seite zu, nahm ihm die Tasche ab, um sie im Kofferraum zu verstauen.

      »Steig ein«, sagte Gabriel ruhig und deutete auf die andere Seite des Wagens, bevor er sich selbst auf die Rückbank schob und die Tür zuzog.

      Wieder tat Aiden einfach, was ihm gesagt wurde. An das Herzklopfen in seiner Brust hatte er sich inzwischen gewöhnt und nur am Rande bekam er mit, wie die zwei Personenschützer selbst in ein Auto stiegen um ihnen zu folgen. Er landete auf weichem Leder, als er einstieg. Im Inneren des Autos roch es danach. Aiden kannte sich nicht gut mit Fahrzeugen aus, aber er war sich sicher, dass dieses Auto einiges mehr gekostet hatte als der gebrauchte Kombi, den sich seine Eltern im letzten Jahr zugelegt hatten. Noch nie war er mit einem Auto gefahren, das von einem Chauffeur gelenkt worden war. Während er sich anschnallte, sah er sich um. Getönte Scheiben, hochwertige, glänzende Armaturen. Plastik konnte er kaum entdecken. Dass Barone viel Geld hatte, hatte er ja geahnt, dennoch verschlug ihm die Präsenz dieses Reichtums den Atem und er war sicher, dass die Wohnung oder das Haus oder das Schloss oder was immer Barone bewohnte, dem Ganzen noch die Krone aufsetzen würde.

      Es dauerte nur ein paar Sekunden bis Frank sich hinter das Steuer setzte und den Motor startete, um sich dann in den Verkehr auf der Happy Street einzureihen, nachdem er die Auffahrt des Hotels verlassen hatte.

      Aus dem Augenwinkel warf Aiden einen Blick zu Barone, der seinerseits aus dem Fenster sah. Aiden wandte seine Aufmerksamkeit dem Fahrer zu.

      »Es muss praktisch sein, hier nicht selbst fahren zu müssen«, wagte er sich zu sagen als sie auf der dicht befahrenen Happy Street drei Ampeln hinter sich gelassen hatten. Er wagte es kaum, den großen Mann neben sich anzusehen.

      Gabriel hatte sich inzwischen in sein Smartphone vertieft und rief seine E-Mails ab als die unsichere Stimme an sein Ohr drang.

      »Hm«, machte er nur kurz angebunden.

      »Wie lange fahren wir denn?«

      »Nur ein paar Minuten, Sir«, mischte sich jetzt Frank ein, der deutlich gesprächiger war als sein Chef.

      Aiden sah nach vorn. »Oh. Gut.« Ein grau-grünes, freundliches Augenpaar begegnete ihm im Rückspiegel und Aiden versuchte ein Lächeln. »Wie heißen Sie?«

      »Frank, Sir.«

      »Und ist das Ihr Vor- oder Ihr Nachname?«, hakte Aiden nach.

      »Mein Vorname, Sir.«

      »Ich verstehe.« Kurz warf Aiden einen Blick zur Seite, doch Barone schien beschäftigt zu sein. »Haben Sie auch einen Nachnamen, Frank?«

      »Ja, Sir. Aber Frank reicht vollkommen«, meinte der Mann und sah kurz durch den Rückspiegel, bevor er wieder auf die Straße achtete.

      »Dann können Sie mich Aiden nennen.« Um Frank nicht weiter von seiner Arbeit abzuhalten, sah Aiden nun lieber aus dem Fenster.