Ava Patell

Der Kronzeuge


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war das gesamte Hotel in diesem Stil gehalten, denn auch im Badezimmer glänzten goldene Armaturen am Waschtisch, in der geräumigen Dusche und auch an der freistehenden Badewanne. Aiden drehte den Wasserhahn auf und hielt die Hände unter den kalten Wasserstrahl.

      Alles hier wirkte nobel, aber ohne zu aufdringlich zu sein, ohne kitschig zu wirken. Normalerweise gefiel Aiden so eine Einrichtung überhaupt nicht, aber hier schien auf alles geachtet worden zu sein, einschließlich der Kordeln an den Bändern, die die Vorhänge zusammenhielten. Diese Harmonie verlieh dem Zimmer einen Charme, den er bei der Einrichtung nie für möglich gehalten hätte. Aiden spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und es wunderte ihn nicht, dass das Handtuch so weich in seinen Händen lag, wie er es noch nie gespürt hatte. Es wunderte ihn auch nicht, dass es außerordentlich sauber war. Mr. Barone schien kein Mann, der Fehler seiner Mitarbeiter tolerierte. Schon im Foyer war ihm ja die perfekte Kleidung der Angestellten aufgefallen.

      Zurück im Wohnzimmer ließ sich Aiden auf eines der Sofas fallen. Die Polster waren nicht zu weich, aber auch nicht zu hart. Er schlüpfte aus den Schuhen und zog die Füße auf die Sitzfläche, legte beide Arme darum und die Stirn auf seine Knie. Für einen Moment schloss er die Augen. Stille umgab ihn, aber er nahm sie kaum wahr, weil in seinem Kopf ein tosendes Durcheinander herrschte. Kurz dachte er darüber nach, den Fernseher einzuschalten, aber er ertrug gerade keine weiteren Geräusche. Er hatte sein Handy nicht, er durfte mit niemandem Kontakt aufnehmen, so verlockend das auch war mit dem Telefon auf dem Schreibtisch, der hier im Wohnzimmer als Arbeitstisch diente. Jeder Kontakt würde die Personen in seinem Umfeld gefährden und so zerrissen Aiden auch war, dieses Risiko würde er nicht eingehen. Seine Finger krallten sich in seine Jeans und tief sog er ihren Duft in sich auf. Wenigstens etwas, das ihn an sein Leben vor der letzten Nacht erinnerte. Denn das war jetzt erst einmal Geschichte. Für wie lange? Er wusste es nicht. Überhaupt wusste er nicht viel. Hatte er richtig gehandelt, als er Sam Wilkins vertraut hatte? Als er sich hierher begeben hatte? Er hatte kaum eine Wahl gehabt.

      Das oder der sichere Tod. Zumindest, wenn er Wilkins’ Worten glauben konnte. Fest kniff Aiden die Augen zusammen, hinter denen es bedrohlich zu brennen begann. Zitternd holte er Luft, besann sich darauf, dass er noch lebte, dass er das Richtige getan hatte und dass es ein Ende haben würde. Irgendwann. Dann wäre sein Leben wieder das alte.

      Zur Ruhe kommen. Vielleicht etwas schlafen. Asalis Worte gingen ihm durch den Kopf. Er wusste, es war das einzig Vernünftige, aber an Schlaf konnte er nicht denken. Nicht jetzt. Was war nur passiert, dass er jetzt plötzlich hier saß? Die letzten Stunden schienen vollgestopft von Ereignissen gewesen zu sein, die ihn mit immerwährenden Erinnerungen quälten. Aiden erinnerte sich an das Beruhigungsmittel und hob den Kopf.

      Wo hatte er seine Jacke gelassen? Er sah den dunkelblauen Stoff auf der Lehne eines hohen Sessels liegen. Anscheinend hatte er sie selbst dort abgelegt. Aidens Füße glitten über den weichen Stoff des Sofabezugs. Langsam erhob er sich, trat auf den Sessel zu und zog den weißen Streifen aus der Tasche hervor, in dem die einzelnen Tabletten in ihren kleinen Aushöhlungen saßen. Sollte er jetzt eine oder zwei nehmen? Der Arzt hatte ihm auf die Rückseite geschrieben, wie er sie einzunehmen hatte, aber Aiden war sich ganz und gar nicht sicher, ob jetzt der richtige Zeitpunkt war. Alles schien sich im Augenblick um den richtigen Zeitpunkt zu drehen.

      Er hatte diese grausige Tat mitangesehen und das nur, weil er zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen war. Was, wenn es anders gewesen wäre? Dann würde er jetzt mit Mr. Gettisburgh von ihrem Spaziergang zurückkehren und in die Mittagspause gehen. Mr. Gettisburgh erzählte immer gern aus seiner Vergangenheit als professioneller Rennfahrer, während er ruhig an seinem Stock neben Aiden herlief. Heute hatte er hoffentlich jemand anderen gefunden, dem er darüber berichten konnte. Aiden dachte über die vielen neuen Menschen nach, die er heute kennengelernt hatte. Die Polizisten auf der Wache, Sam Wilkins, Asali Sorkov, die ebenso eine Ruhe ausgestrahlt hatte wie es Mr. Gettisburgh tat. Aiden hatte diese Ruhe gut getan, aber jetzt war er allein.

      In einem Hotel von diesem Gabriel Barone, den er nicht einschätzen konnte. Aidens Gedanken führten ihn wie von selbst zu dem toten Mann. Seine weit aufgerissenen Augen, in denen er das Weiße hatte sehen können, würde Aiden nicht so bald vergessen und auch das Röcheln und Gurgeln seines Atems und das dunkel glänzende Blut nicht. Schon jetzt schien alles wie ein Hintergrundgeräusch, das sich permanent unter alle anderen Geräusche der Umgebung mischte. Noch immer starrte Aiden auf die Verpackung in seiner Linken. In der Rechten hielt er seine Jacke. Nun ließ er beides sinken.

      Noch nicht, beschloss er. Noch war nicht der richtige Zeitpunkt für ein Beruhigungsmittel. Er wusste nicht einmal, ob er hier bleiben würde. Ob das hier jetzt seine Unterkunft für die nächsten Tage sein würde. Fester schlossen sich Aidens Finger um die Blisterpackung. Er hatte das Richtige getan. Das einzig Richtige. Was auch immer das jetzt für ihn bedeuten würde. Für einen Moment konnte er sich wieder spüren. Aiden schob das Beruhigungsmittel zurück in seine Jackentasche.

      Er würde gern duschen. So richtig heiß duschen, den Schweiß des Morgens von seiner Haut waschen. Doch anschließend würde er wieder in seine benutzte Kleidung steigen müssen und wenn er ehrlich war, konnte er sich darin schon selbst riechen. Eine Dusche wäre damit hinfällig, also ließ er die Jacke auf der Sessellehne liegen und trat vor das Fenster. Ob Cortez schon Bescheid wusste? Er konnte auf die Stadt hinabsehen. Irgendwo da draußen lag die Leiche des Mannes, dessen Mord er beobachtet hatte. Irgendwo da draußen lebte der Mann, der die Schuld an dieser Misere trug. Irgendwo wurde vielleicht eine Familie darauf aufmerksam, dass der Vater nicht ans Telefon ging. Oder der Bruder, der Mann, der Sohn. Vielleicht nur ein Angestellter. Aiden wusste nichts über diesen Mann, der umgebracht worden war, aber er war sich sicher, sein Tod würde nicht unbemerkt bleiben - genau wie sein eigenes Verschwinden.

      Wieder dachte er an seine Schwester, an seine Eltern, seine Freunde und ihm fiel die Liste ein, die Sam Wilkins noch von ihm verlangt hatte. Leicht zog Aiden die Augenbrauen zusammen. Sie alle konnten gefährdet sein, wenn Cortez ihm auf die Schliche kam. Sie alle brauchten Schutz. Entschlossen öffnete Aiden die Bänder, die die Vorhänge zusammenhielten und mit einem kräftigen Ruck zog er sie vor die breiten Fenster. Er trat an den Schreibtisch, schaltete die Tischlampe mit dem dunkelgrünen Lampenschirm ein und zog einen Bogen des hoteleigenen Briefpapiers hervor. Er hob den ungewöhnlich schweren Kugelschreiber von der dunklen Tischplatte, sah auf das beleuchtete Papier. Dann begann er zu schreiben. Eine Liste seiner Freunde, selbst von denen, mit denen er weniger eng befreundet war.

      Nicht alle Adressen hatte er im Kopf, bei einigen kannte er nur die Straße, aber nicht die Hausnummer, bei anderen nicht einmal die. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sich Aiden sicher war, keinen vergessen zu haben und er betrachtete sein Werk. Hier und da waren Fragezeichen neben seiner engen, klaren Handschrift zu sehen. Leicht nickte er. Zumindest hatte ihn diese Liste beschäftigt. Der Stift hatte nicht mehr gezittert, als er ihn geschlossen und wieder abgelegt hatte. Und nun? Er drehte sich auf dem Stuhl und sah in das Hotelzimmer, das nun in gedämpftem Licht vor ihm lag.

      Nach einigem Zögern schaltete Aiden doch den Fernseher ein, wählte aber einen Musiksender aus der Liste. Nicht einmal seinen MP3-Player hatte er hier - nichts. Keine Hygieneartikel, keine Kleidung, nichts, das an sein Leben vor dem Mord erinnerte. Als es irgendwann an der Tür klopfte, schreckte er zusammen, doch wie sich herausstellte, war es nur Asali, die ihm neue Kleidung und eine kleine lederne Reisetasche brachte. T-Shirts, Pullover, Jeans, Socken und Unterhosen für die nächsten Tage, alles in der Größe M. Aiden war es unangenehm, dass eine fremde Frau für ihn einkaufen gegangen war, aber die Situation ließ wohl nichts anderes zu, also bedankte er sich. Asali sah ihm fest ins Gesicht, nachdem ihr Blick kurz zu den zugezogenen Vorhängen geglitten war.

      Sie strahlte eine innere Ruhe aus und Aiden wusste, ihre dunklen braunen Augen konnten ihm in die Seele sehen, so sehr er sich auch dagegen wehren wollte. Sie konnte die Angst sehen, die in ihm auf einen schwachen Moment wartete, die Unsicherheit ihr und Gabriel Barone gegenüber. Er war ihr dankbar, dass sie all das nicht ansprach. Nicht seit ihrer Frage nach seinem Befinden vorhin.

      »Versuch’ ein wenig zu schlafen«, sagte sie nur. Der Tonfall war streng, also nickte Aiden, die Kleidung auf dem Arm, von der sämtliche Schilder bereits entfernt waren. Er legte alles auf dem Sessel ab, nachdem Asali den