Blüten. Sie rankte am Fallrohr bis an die Dachkante empor. Ohne zu wissen, warum, lächelte er bei diesem Gedanken vor sich hin und dachte an die hübsche junge Frau, die ganz offensichtlich zu diesem künstlichen Ort, an dem er jetzt stand, überhaupt nicht gepasst hätte.
Das goldblonde Haar war zu einem wilden Knoten im Nacken geschlungen gewesen, Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten das feine Gesicht mit den durchdringenden, fast grünen Augen. Er hatte ihre Hände betrachtet, die ihm die Rose reichten: Sie waren ein rot gefroren, von Erde beschmutzt und von Dornen zerkratzt gewesen, was sie kein bisschen zu stören schien. Und ganz sicher war er, dass sie keine hohen Schuhe getragen hatte.
Nein, an diesen unnatürlichen Ort würde jemand wie Janine nicht passen. Janine strahlte Natürlichkeit, Lebendigkeit aus, dieser Ort war reines Business und Zweckmäßigkeit.
Im Büro angekommen hängte er seinen Mantel an die Garderobe, begrüßte Claudine und ging in die Küche, um sich einen heißen Kaffee zu holen. Claudine folgte ihm.
»Das kann ich doch machen«, sagte sie und nahm ihm das Kaffeepulver aus der Hand.
»Also ehrlich, Claudine, du bist meine Schwägerin und Büroleiterin, nicht meine Sekretärin. Ich mach das selbst, gib her.« Sie gab ihm den Kaffee zurück, sah ihn aufmerksam an, als wenn sie irgendwas in seinem Gesicht lesen wollte, aber er hatte schon sein berufliches Pokerface aufgesetzt. Keine Regung war in seinen Zügen zu erkennen. Zweckmäßig.
»Henry ist schon wieder gegangen«, sagte sie zu Paul. »Ich hatte versucht, ihn telefonisch zu erreichen, bevor er losfuhr, aber Marlene sagte, er sei heute Morgen schon um fünf aufgestanden und losgefahren.«
Er sah sie erstaunt an. »Um fünf? Das hört sich nicht nach Henry an.«
»Hab ich auch gedacht. Aber Marlene wusste nicht, woran er im Moment arbeitet. Ich hab sie gefragt.« Claudine fuhr sich etwas genervt über das Gesicht.
Irgendetwas war mit ihr, dachte Paul und runzelte seine Stirn. »Dachte ich mir.«
»Uh, du bist ja gesprächig heute.«
Paul sah sie weiterhin verwundert an. »Ich bin so wie immer«, antworte er.
»Aber irgendwas ist heute anders. Ich glaube nicht, dass ich schon mal einen Termin verschieben musste, weil du den Kalender spontan geändert hast. Das ist in den fünf Jahren, die ich für dich arbeite, noch nicht vorgekommen.« Claudine trat näher. »Also, was war heute Morgen?«
Er drehte sich weg und füllte die Kaffeemaschine mit den Kaffeebohnen und Wasser. Ihm kam ganz und gar nicht in den Sinn, seiner Schwägerin zu erzählen, was er heute Morgen gemacht hatte. Das ging sie nichts an.
»Er hat nicht gesagt, was er von dir wollte« sprach sie weiter, als sie merkte, dass Paul nicht antworten würde.
»Ich ruf ihn später an«, sagte er und drehte sich zu ihr um, als sie die Küche verließ. Er betrachtete ihre Gestalt. Claudine war eine schöne Frau. Klein und zierlich. Und wie Manu hatte sie langes, schwarzes Haar. Doch ihr fehlte jegliche Ungezwungenheit und Leichtigkeit. Die Haare waren streng zurück gekämmt und in einem engen Knoten gebändigt. Das enge, dunkelblaue Kostüm saß perfekt und betonte ihre schlanke Figur. In der linken Hand hielt sie ihre Brille, eine elegante Schwarze, deren Bügel ein goldenes Chanelzeichen zierte.
Wie sie allerdings die zugigen Straßen von La Defense auf ihren Stöckelschuhen bei Wind und Wetter meisterte, war ihm schleierhaft. Er hatte sie noch nie ohne die hohen Schuhe gesehen. Er nahm an, dass sie ihm ohne Schuhe allerhöchstens bis zur Brust reichen würde.
»Da habe ich wohl etwas verpasst?« fragte sie schnippisch. Sie drehte sich um und erwischte ihn bei seiner Musterung.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er unendlich dämlich aussehen musste, wie er sie ansah und dabei kein Wort sagte. Wieso um alles in der Welt war er so in seine Gedanken vertieft? Das passiert ihm doch sonst nicht. »Nein, Claudine. Alles ist gut.« Langsam drängte er sich an ihr vorbei. Mit Schuhen war ihr Scheitel etwa auf Höhe seines Kinns. 10 Zentimeter größer in 10 Sekunden, dachte er und grinste unwillkürlich. Er ließ sie stehen und ging in sein Büro.
Claudine konnte manchmal wirklich anstrengend sein und ihr schnippischer Kommentar hatte Paul darauf hingewiesen, dass dies einer der anstrengen Momente war. Vermutlich war seine Büroleiterin verärgert, weil sie nicht wusste, wo er den Vormittag verbracht hatte. Sie übernahm gern die Kontrolle und wollte immer alles ganz genau wissen. Claudine machte ihren Job sehr gut.
Er hatte sich zunächst gesträubt, jemanden aus der nahen Verwandtschaft von Manu in die so wichtige Position einzustellen. Aber Manu hatte ihn mit nach allen Regeln der Kunst bearbeitet, mehrere Wochen lang, und am Ende hatte er ihr wie immer nicht widerstehen können.
»Nun gut, Manu, ich probiere es mit deiner Schwester«, hatte er ihr versprochen. »Aber wenn es nicht passt, muss sie sich etwas anderes suchen.« Die ersten Tage liefen nicht gut, aber nach und nach erkannte er ihre Qualitäten als Büroleiterin. Sie war der Drache vor seiner Tür. An ihr kam keiner vorbei, wenn sie es nicht wollte. Und nachdem Manu gestorben war, war ihm das genau recht, auch wenn er wusste, dass manch einer seiner Klienten sich ein wärmeres Willkommen in seiner Kanzlei wünschte.
Claudine war streng, lächelte wenig und verschanzte sich hinter einer höflichen Korrektheit, die manchmal nur haarscharf neben Unhöflichkeit und kalter Distanz lag. Es mangelte ihr gegenüber anderen an Einfühlungsvermögen. Paul glaubte, dass es sich um Selbstschutz handelte, denn ihm gegenüber hatte sie sich seit Manus Tod einigermaßen mitfühlend und zum Teil wirklich besorgt gezeigt. Sie konnte also auch ganz anders, wenn sie wollte. Das einzig schwierige war nur, dass er in ihr einen kleinen Teil von Manuela sah.
Und das Tag für Tag …
Kapitel 3 – Aller Anfang ist schwer
Janine hing ihren Gedanken an den ihren ersten Kunden noch immer hinterher, als die Türglocke ein zweites Mal an diesem Morgen bimmelte. Herein kam Jean.
»Salut, Jean! Wie geht es dir?« Janine freute sich, Jean zu sehen. Er gehörte der Trödelhandel, wo sie Tische, Dekoration und allerlei Utensilien in den letzten Wochen für ihren Blumenladen erstanden hatte und in den letzten Wochen und Monaten, war er zu einem echten Freund geworden. »Das freut mich aber, dass du mich besuchen kommst. Du bist heute schon der dritte Besucher.«
»Was? Schon drei Kunden heute Morgen und das am ersten Tag? Es ist doch erst zehn Uhr. Das geht ja gut los.« Er strahlte sie an.
»Ich muss zugeben, dass von drei Besuchern nur einer ein Kunde geworden ist, es sei denn, du möchtest ein paar Blumen kaufen?« Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
»Eigentlich wollte ich nur mal nachsehen, was du mit all den Schätzen, die du bei mir erworben hast, angestellt hast.« Er schaute auf die Holztische, die in frischem Grün lackiert waren, auf die Glasvasen, die Dekoration. Sein Blick blieb an der Holzkiste, die Janine als Kasse diente, hängen.
»Aber ...«, sagte er geflissentlich, »… eine meiner alten Gewürzkisten mit dem Grünzeug darin kauf ich dir natürlich ab. Könnte ja vielleicht meine Kunden inspirieren, was man mit dem alten Kram noch so alles anstellen kann.«
»Das Grünzeug hat blaue oder rosa Blüten, Jean. Grünzeugs ist wirklich nicht der passende Ausdruck für meine schönen Hyazinthen«, sagte sie lächelnd. Während sie hinausging und mit der Hyazinthe wieder hineinkam, erzählte sie von ihrem ersten Gast, dem kleinen Kater und ihrem ersten Kunden, seinem Besitzer.
»... und so hat der kleine Kater mir meinen ersten Kunden gebracht. Prima, nicht wahr?«
»Ja, das war Paul. Den kenne ich gut. Der wohnt ein oder zwei Stockwerke über dir. Netter Kerl.« Die Stimme kam von irgendwoher, Jean war jedenfalls nicht mehr zu sehen.
»Jean? Wo bist du denn hin?«
»Hier