hatte und legte sie auf das mindestens ebenso alte Grammophon, das neben dem Sofa stand. Und tatsächlich: Nachdem er ordentlich die Kurbel gedreht hatte, drehte sich auch der Plattenteller und aus dem Trichter knarzte ein Ragtime.
»Erzählen Sie doch mal, wie es dazu kommt, dass Sie dem Vormarsch des Klingeling, der schnellen Küche und dem billigen Tand hier in unserer Rue Cailloux Einhalt gebieten wollen?« Sie hatte angefangen, von ihren Plänen zu erzählen und nach der dritten Tasse Kaffee waren sie Freunde geworden.
Jetzt stand Jean vor ihr in ihrem eigenen Blumenladen und sagte: »Ich finde es gar nicht so schlecht, was du aus den Tischen gemacht hast. Bisschen Farbe drauf und siehe da …«
»Naja, ein bisschen mehr hab ich schon gemacht. Holzwürmer vernichtet, Furnier repariert, neu geleimt, weil alles wackelte.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Ihr Zopfband hatte sich bei der Krabbelei unter den Tischen gelöst und sie machte sich einen neuen Pferdeschwanz. »Und erst danach die Farbe. Die Tische brechen mir doch sonst unter dem Gewicht zusammen. In den Eimern sind nicht nur Blumen sondern auch Wasser.«
»Ja, ja, das brauchen die wohl«, schmunzelte Jean über seine eigene Einfalt. Er besah sich die alten Glasvasen mit den Blumensträußen. Er schien über irgendetwas nachzudenken. »Ich hab noch mehr Tische im Lager, brauchst du die vielleicht?«
»Nein. Nett von Dir, aber ich hab jetzt genug. Man muss ja noch durchkommen können.«
Jean strich bedächtig über die mintgrüne Tischplatte. »Und Vasen und so, hast du davon schon genug?«
Was wollte er bloß? Er wusste doch, dass sie kein Geld mehr hatte. Sie hatte alles in den Laden gesteckt und nun war sie pleite. Nichts mehr übrig für weitere Dekoration. Sie musste erst einmal Geld verdienen. »Die Kasse ist leer, Jean. Ich hatte erst einen Kunden. Vielleicht später. Möchtest du einen Tee?«
»Merci, Madame, aber nein.« Er schaute sich noch einmal um und nickte wie zur Bestätigung.
»Man kann sich hier ja auch nirgends komfortabel niederlassen. Ich muss sitzen, wenn ich etwas zu mir nehme, sonst schlägt mir alles auf den Magen. Ich nehme jetzt mal die Hyatinte, die Hya..., also das Grünzeug in der Gewürzdose mit und heize dann bei mir im Trödelladen die neue Kaffeemaschine an. Komm mich mal wieder besuchen, wenn du zwischendurch Zeit hast.« Er legte ihr einen kleinen Schein hin.
»Lass mal das mit dem Wechselgeld. Ich muss dich ja unterstützen, damit du dir bald einen Stuhl leisten kannst. Dann kann ich auch bei dir mal einen Tee trinken.« Er zwinkerte sie an und machte sich dann leicht hinkend mit der umfunktionierten Gewürzkiste unterm Arm auf den Weg.
Janine war froh, dass er es nicht weit bis zu seiner Kaffeemaschine hatte. Sie legte den Schein in ihre Kiste. Ganz schön klapprig, der alte Trödler. Aber was hat er denn nun eigentlich von ihr gewollt?
Und zwischen ihren Gedanken, die darum kreisten, warum Jean ihr auf einmal Tische und Vasen überlassen wollte, was sie außerdem tun könnte, um neue Kunden in ihren Laden zu locken, tauchte immer wieder der Herr von heute Morgen auf: Der Mann mit der weißen Rose.
Es war niemand mehr gekommen, als sie am Abend des Eröffnungstages von Les Fleurs kurz mit den Fingern auf die Kassenkiste tippte und bei sich dachte, dass sie wohl kaum die Einnahmen zählen müsste. Sie wusste den Betrag, der in der Kiste lag, auswendig. Zwanzig Euro in Kleingeld, das sie am Tag vorher bei Bank als Wechselgeld geholt hatte, der Schein von Jean und die drei Münzen des Herrn mit der weißen Rose.
»C’est tout. Das ist alles. Naja, morgen ist ein neuer Tag.« Sie setzte ihre selbstgestrickte Wollmütze auf, wickelte sich den dicken Schal dreimal um den Hals und zog den blauen Parka an, den sie vor einigen Monaten in einem Second-hand-Laden am Centre Pompidou erstanden hatte. Dann öffnete sie die Tür an der rückwärtigen Wand ihres Ladens und drückte auf den Schalter für das Licht vorsichtig herunter.
Der Schalter war ziemlich alt und sie hatte ein wenig Sorge, dass sie irgendwann einen Schlag bekommen könnte. »Den muss ich bald mal tauschen«, sagte sie zu sich und schrieb es gedanklich auf ihre lange To-do-Liste.
Sie ging die steile Steintreppe hinab und gelangte auf den Kellerflur. Janine blickte nach rechts, konnte aber im Licht der funzeligen Glühbirne, die an der Decke in einigen Metern Entfernung hing, nicht viel erkennen. Sie sah die Türen an den Seiten des Ganges. Alle waren geschlossen.
Wo der lange Gang endete, blieb im Dunkeln. Sie ging nach links und nach einigen Metern stieß sie auf eine Tür. Vorsichtig öffnete sie die grobe Holztür zu ihrem Kellerraum. Das Türblatt war alt, schwer und quietschte verdächtig laut in den Angeln. Wer wollte, hätte sie ohne besondere Schwierigkeiten aufbrechen können.
Das Holz war morsch und zwischen der Türkante und Schwelle waren mindestens 10 Zentimeter Platz. Sie griff um die Ecke. Auch hier war sie vorsichtig, als sie den Lichtschalter betätigte. »Diese schönen Räumlichkeiten sind Anfang des 20. Jahrhunderts mit Elektrizität ausgestattet worden und damit auf dem neusten Stand der Technik, meine geschätzten Damen und Herren Besucher«, erzählte sie einem unsichtbaren Publikum.
Der Kellerraum war feucht und leer, er roch modrig. Das war eindeutig nicht der Teil ihres Mietobjekts, den sie am Meisten mochte. Sie fühlte sich hier unwohl. Er erinnerte sie an die alten Keller in Valmont. Sie und ihre Freunde hatten die alten Gemäuer der verlassenen Häuser erforscht.
Es war eine Mutprobe gewesen: Wer einen noch unbekannten Keller als erstes bestieg, galt fortan als Besitzer des Kellers und durfte alle Schätze, die sie dort fanden, behalten. Janine war Besitzer von einem Keller, ihr bester Freund, Pascal, nannte fünf Keller sein eigen. Janine war erstens nicht besonders mutig gewesen, was die Erkundung dunkler, muffiger Keller anging. Sie vermutete stets, dass sich hinter den dunklen Ecken irgendetwas Gefährliches oder Ekliges versteckte. Zudem war sie sich sicher gewesen, dass ihre Eltern die waghalsigen Abenteuer ihrer heißgeliebten Tochter nicht gutgeheißen hätten.
Sie war dennoch froh, dass sie diesen dieses moderige Kellerloch hier unten hatte. Er war nicht perfekt, aber hier konnte sie die Schnittblumen kühl und feucht lagern und das Beste war, dass sie hier einen Wasseranschluss und ein Waschbecken hatte.
Sie zog den alten Vorhang vor dem Fenster zurecht. Das Fensterloch führte zwar auf der Seite der Rue Cailloux ins Freie, jedoch mindestens einen Meter unter dem Gehweg in einen gemauerten Schacht, sodass kein Licht nach innen in ihren Keller drang. Das Fenster war von außen mit dicken, eingemauerten vertikalen Eisenstangen vergittert. Anstatt des kaputten Glases der rechten Seite im doppelseitigen Fensterrahmen hatte sie Pappe zwischen das Holz geklemmt.
Sie überprüfte, ob es noch festsaß. Es hatte sich, wie sie vermutet hatte, an einer Ecke gelöst und war auch ein bisschen feucht. Sie machte eine Notiz auf ihrer gedanklichen Liste. Es zog durch den Spalt in der feuchten Pappe. Wenigstens kam wegen des Gitters keiner hinein. Allerdings auch keiner hinaus, sollte die Tür zufallen. Sie drehte sich schnell um, um zu sehen, ob die Eingangstür noch offen stand.
Unheimlich hier.
Es fröstelte sie, als sie die Treppen hochstieg und zurück in den Laden ging. Anschließend begann sie die Zinkeimer mit den Schnittblumen nach unten zu tragen. Für die Blumenlagerung war der Raum ideal, aber die Prozedur, die sie zweimal täglich, einmal morgens und einmal abends, vollzog, war Hochleistungssport.
Die Eimer mit dem Wasser waren schwer, die Steintreppe schmal und ein wenig rutschig, die Beleuchtung unzureichend. Sie brauchte länger als sie dachte. Trotz der Kälte kam sie in Mantel, Schal und Mütze ins Schwitzen. Nachdem sie alle Eimer auf dem Brett platziert hatte, das unterhalb des Fensters fest in der Wand verankert war, verschloss sie die Tür sorgfältig und ging zurück in den Laden.
Ächzend verstaute sie die Hyazinthen und den Tisch vom Gehweg ordentlich im Laden, nahm dann die alte Umhängetasche und trat auf die Straße. Sie ging ein paar Schritte rückwärts und sah von außen in das erleuchtete Schaufenster ihres Ladens. Auch hier hatte sie sich viel Mühe mit der Dekoration gegeben. Ein altes Schubladenschränkchen hatte sie ebenfalls in mintgrün gestrichen, die Schubladen standen offen