Thomas Rauscher

Klausurenkurs im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht


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der italienische Rechtsanwalt, den sie im Dezember 2013 aufsucht, die Langwierigkeit eines Scheidungsverfahrens in Italien darstellt, zieht Frieda am 1.2.2015 auf Dauer nach Berlin.

      Der Rechtsanwalt, den sie in Berlin konsultiert, meint, ihre Ehe sei eigentlich nicht wirksam und deshalb kein Fall für eine Scheidung. Er stellt am 29.3.2016 bei dem für den Wohnort der Frieda örtlich zuständigen Amtsgericht Berlin Köpenick (Familiengericht) folgende, dem Marcello am 21.6.2016 zugestellte, Anträge:

Die am 1.6.1970 geschlossene Ehe von Frieda Frankfurt und Marcello Mestre wegen Verstoßes gegen das Ehehindernis der anderweitig bestehenden Ehe aufzuheben.
Hilfsweise die vorbezeichnete Ehe zu scheiden.
1. Wie wird das Gericht entscheiden, wenn Marcello mit beiden Anträgen einverstanden ist?
2. Abwandlung 1: Bei im Übrigen unverändertem Sachverhalt haben die Ehegatten während ihrer gesamten Ehe in Locarno (Kanton Tessin, Schweiz) gelebt und leben dort (getrennt) auch weiterhin. Außerdem hat Frieda nicht die italienische Staatsangehörigkeit erworben. Ist ein deutsches Gericht für einen Scheidungsantrag der Frieda zuständig? Wie kann das Familiengericht Zweifel an der Auslegung der maßgeblichen Zuständigkeitsbestimmungen klären, wenn der Antragsgegner vorträgt, kein Gericht in der EU sei für diesen Scheidungsantrag zuständig?
3. Abwandlung 2: Die Ehe ist für beide Ehegatten die erste Ehe, beide sind ausschließlich italienische Staatsangehörige und haben seit der Eheschließung immer in Deutschland gelebt. Sie haben in einem am 3.1.2012 vor einem Notar in Berlin geschlossenen Ehevertrag unter anderem bestimmt: „Soweit dies derzeit oder künftig gesetzlich zulässig ist, vereinbaren wir für eine Scheidung unserer Ehe die Anwendung italienischen materiellen Rechts.“ Frieda möchte geschieden werden, Marcello will einer Scheidung nicht zustimmen. Welchen Antrag kann Frieda mit Aussicht auf Erfolg im Januar 2018 vor deutschen Gerichten stellen?

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      Materialien

      I. Intertemporale Hinweise zum deutschen IPR

      a)

      Intertemporale Fragen sind zu erörtern.

      Soweit sich daraus die Anwendung einer früheren Rechtslage ergibt, ist davon auszugehen, dass dem geltenden deutschen IPR und IZPR inhaltlich identische Normen zu den fallrelevanten Fragen und in den fallrelevanten Zeitpunkten in Kraft waren.

      II. Italienisches IPR

      b)

      Mit Wirkung vom 1.9.1995 wurde das italienische IPR reformiert; bis 31.8.1995 war das IPR geregelt in den Einführungsbestimmungen des codice civile:

      c) Art. 17 disp.s.l.in gen.

      Der Personenstand, die Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Personen und die Rechtsverhältnisse der Familie werden vom Recht des Staates geregelt, dem diese angehören.

      [Hinweis: Art. 17 Abs. 1 wurde auf die Voraussetzungen und die Wirkungen der Ehe bei gleicher Staatsangehörigkeit angewendet.]

      Art. 31 IPRG

      (1) Die persönliche Trennung und die Auflösung der Ehe unterliegen dem gemeinsamen Heimatrecht der Ehegatten im Zeitpunkt des Trennungsantrags oder des Antrags auf Auflösung der Ehe. Fehlt ein solches, ist das Recht des Staates anwendbar, in dem das Eheleben überwiegend stattfindet.

      (2) Die persönliche Trennung und die Auflösung der Ehe werden durch italienisches Recht geregelt, wenn sie von dem anwendbaren ausländischen Recht nicht vorgesehen sind.

      III. Italienisches materielles Recht

      e) Art. 86 cc

      1970 geltende Fassung: Eine Ehe kann nicht eingehen, wer bereits durch eine frühere Ehe gebunden ist.

      Seit 5.6.2016 geltende Fassung: Eine Ehe kann nicht eingehen, wer bereits durch eine frühere Ehe oder eine unione civile zwischen Personen gleichen Geschlechts gebunden ist.

      f) Art. 115 Abs. 1 cc

      Der italienische Staatsbürger ist den im ersten Abschnitt dieses Kapitels enthaltenen Vorschriften auch dann unterworfen, wenn er die Ehe im Ausland nach den dort geltenden Formvorschriften schließt.

      [Hinweis: Zum genannten 1. Abschnitt gehört auch Art. 86 cc]

      g) Art. 117 Abs. 1 cc

      (1) Die unter Verstoß gegen die Bestimmungen der Artikel 86, 87 und 88 geschlossene Ehe kann von den Ehegatten, ihren nächsten Aszendenten, der Staatsanwaltschaft und von all denen angefochten werden, die an der Anfechtung ein berechtigtes und gegenwärtiges Interesse haben.

      (2) Eine in Verletzung des Artikels 84 geschlossene Ehe kann von den Ehegatten, von jedem Elternteil und von der Staatsanwaltschaft angefochten werden (…)

      h)

      Die in Art. 117 Abs. 1 cc erwähnte Anfechtung erfolgt durch Klage; das stattgebende Urteil hebt die Ehe ex tunc auf. Die Scheidung der früheren Ehe beseitigt nicht die Aufhebbarkeit im Fall der Art. 117 Abs. 1, 86.

      i) Art. 3 L 1970/898

      Die Auflösung der Ehe oder die Beendigung ihrer zivilrechtlichen Wirkungen kann von einem der Ehegatten beantragt werden:

      (…)

      2. in den Fällen, in denen:

      (…)

      (b) eine gerichtliche Trennung zwischen den Ehegatten durch rechtskräftiges Urteil ausgesprochen oder eine einverständliche Trennung gerichtlich bestätigt worden ist oder wenn eine tatsächliche Trennung besteht, sofern diese tatsächliche Trennung wenigstens zwei Jahre vor dem 18.12.1970 begonnen hat.

      In allen vorgenannten Fällen muss für die Einreichung des Antrags auf Auflösung der Ehe oder Beendigung ihrer zivilrechtlichen Wirkungen die Trennung zwischen den Ehegatten ununterbrochen mindestens zwölf Monate gedauert haben, gerechnet von dem Zeitpunkt an, zu dem die Ehegatten im Ehetrennungsverfahren vor dem Gerichtspräsidenten erschienen sind, oder sechs Monate im Fall der einverständlichen Trennung, auch wenn das streitige Urteil in ein einvernehmliches umgewandelt worden ist, oder von dem Zeitpunkt an, der in einer anwaltsunterstützten Trennungsvereinbarung angegeben ist oder der sich aus der Urkunde über die vor dem Standesbeamten geschlossene Trennungsvereinbarung ergibt. Eine eventuelle Unterbrechung der Trennung muss von der beklagten Partei eingewendet werden.

      k)

      Es ist davon auszugehen, dass andere Gründe des italienischen Rechts für die gerichtliche Scheidung der Ehe der Ehegatten nicht vorliegen. Eine anwaltlich unterstützte Ehescheidung ohne gerichtliches Verfahren („divorzio breve“) nach legge n. 162 v. 10.11.2014 iVm. Decreto legge n. 132 v. 12.9.2014 erfordert immer ein Einvernehmen der Ehegatten über die Scheidung.

      Vor Inkrafttreten der legge 1970/898 sah das italienische Recht eine Scheidung nicht vor. Ausländische Scheidungsurteile mit Beteiligung italienischer Staatsangehöriger