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Besonderes Verwaltungsrecht


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fest, dass der EuGH in den Grundfreiheiten auch Beschränkungsverbote sieht[1232]. Unter den Begriff der Beschränkung fallen jegliche Maßnahmen, die eine freie wirtschaftliche Betätigung verhindern, erschweren oder weniger attraktiv machen (können)[1233]. Die Relevanz dieser Rechtsprechung für das nationale Steuerrecht liegt auf der Hand: Eine Steuernorm, welche zwar unterschiedslos, aber dennoch benachteiligend wirkt, mag zwar keine Diskriminierung aufweisen, verstößt aber gegen das grundfreiheitliche Beschränkungsverbot[1234]. An dieser Stelle spricht man den Grundfreiheiten eine doppelte Richtung zu: Es wird zum einen der Inländer, der einen Zugang zum Auslandsmarkt anstrebt, vor diesem Anliegen entgegenwirkenden inländischen Regelungen geschützt, zum anderen wird auch der Ausländer, der einen Zugang in das EU-Inland anstrebt, von der Schutzwirkung der Grundfreiheiten erfasst[1235]. Es werden mithin Aufnahme-/Zuzugsstaat wie auch Herkunfts-/Wegzugsstaat gebunden[1236]. Die EuGH Spruchpraxis ist insofern extensiv, in jeder Regelung des Steuerrechts, die aktuell oder auch nur potenziell dazu geeignet ist, den Adressaten von einer der geschützten Tätigkeiten mit grenzüberschreitendem Bezug abzuhalten, oder diese für ihn weniger attraktiv zu machen, wird bereits eine Beschränkung der Grundfreiheiten, also ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die selbige gesehen[1237]. Entscheidend ist, ob der Marktzutritt durch die steuerliche Regelung substanziell beschränkt wird[1238].

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      Auch im Bereich der Grundfreiheits-Beschränkungen gilt es sich stets des Umstands bewusst zu sein, dass durch den AEUV gerade keine Harmonisierung der direkten Steuern erfolgen soll, weshalb die bestehenden Unterschiede in den Besteuerungssystemen der Mitgliedstaaten hinzunehmen sind, auch wenn sie die Auswirkungen von Beschränkungen haben mögen[1239]. Die Vielzahl der unterschiedlichen Steuersysteme und hiermit verbundenen Rahmenbedingungen für Steuerpflichtige muss mangels eines Harmonisierungsauftrages des Europarechts hingenommen werden und ist nicht als rechtfertigungsbedürftige Beschränkung von Grundfreiheiten zu interpretieren. Diesem Umstand scheint der EuGH vermehrt Rechnung zu tragen, indem er zwar von einer Beschränkung spricht, letztendlich jedoch nur prüft, ob eine Diskriminierung vorliegt[1240].

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      Die allgemeine Grundfreiheitsdogmatik und -prüfung umfasst stets als letzten Schritt und Korrektiv eine Rechtfertigungsprüfung. Während offene Diskriminierungen eines ausdrücklichen, also im AEUV niedergeschriebenen Rechtfertigungsgrundes bedürfen, können verdeckte Diskriminierungen wie auch Beschränkungen der Grundfreiheiten ebenso durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden[1241]. Als Schranken-Schranke fungiert wiederum das Verhältnismäßigkeitsprinzip[1242].

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      Für das Steuerrecht hat der EuGH verschiedene ungeschriebene Rechtfertigungsgründe als „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ anerkannt. Hierunter fallen die Verhinderung von Steuerumgehungen und -hinterziehungen[1243], eine wirksame Steuerkontrolle bzw. Steueraufsicht[1244], Gründe der Kohärenz mit der nationalen Steuerrechtsordnung[1245] sowie die Gefahr eines doppelten Abzugs und die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis[1246].

      Ausdrücklich nicht als Rechtfertigungsgrund anerkannt wurden hingegen fiskalische Erwägungen wie drohende Steuerausfälle[1247], ein Nachteilsausgleich für Gebietsfremde durch Vorteile an anderer Stelle[1248], verwaltungstechnische Gründe wie Erschwernisse des Steuervollzugs bei grenzüberschreitenden Sachverhalten[1249], wirtschaftspolitische Gründe, etwa die intendierte Förderung der nationalen Wirtschaft durch lenkende Steuervergünstigungen[1250], der (geringe) Umfang der Benachteiligung[1251] sowie die fehlende Harmonisierung und der Verweis auf Doppelbesteuerungsabkommen[1252].

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      Das stets zu berücksichtigende Verhältnismäßigkeitsprinzip erfordert nun die Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahme zur Erreichung des Zieles der Beschränkung bzw. Diskriminierung. Im Gegensatz zu der aus dem deutschen Kontext bekannten Praxis wird eine Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vom EuGH zumindest nicht explizit geprüft[1253], ansonsten erfolgt die Prüfung in Bezug auf die Grundfreiheiten wie aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannt, inklusive einer Interessenabwägung im Einzelfall.

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      Der Interpretation der Rechtfertigungsgründe durch den EuGH kommt für das tatsächliche Verhältnis der Grundfreiheiten zu dem souveränitätssensiblen Gebiet des nationalen Steuerrechts entscheidende Bedeutung zu. Lange wurde insofern eine zunehmende Einflussnahme des Gerichtshofs beobachtet und gar eine Kompetenzüberschreitung und schleichende bzw. „negative“[1254] Harmonisierung der nationalen Steuersysteme durch den EuGH kritisiert[1255], der ein „Einfallstor für die Europäisierung des Steuerrechts“ schaffe[1256]. Die fehlende europäische Kompetenz auf dem Gebiet der direkten Steuern dürfe nicht durch ein extensives Grundfreiheitsverständnis und eine konturenlose Auslegung und Anwendung umgangen werden[1257]. Kritisch aufgenommen wurden insbesondere die Häufigkeit der Heranziehung der Grundfreiheiten und die oftmalige Feststellung ungerechtfertigter Verstöße[1258]. Während dem europäischen Gerichtshof allerdings kein Vorwurf gemacht werden kann[1259], wenn er nationale Steuerrechtsordnungen tatbestandlich an den Grundfreiheiten prüft, konzentriert sich die Frage der Kompetenzüberschreitung auf die konkrete Ausgestaltung der Rechtfertigungsprüfung.

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      Waren die hergebrachten Rechtfertigungsgründe lange einer eher restriktiven Interpretation des EuGH ausgesetzt, ist in der jüngeren Vergangenheit ein Wandel dieses Bildes zu verzeichnen[1260]. So wurden zum Teil länger anerkannte Rechtfertigungsgründe großzügiger interpretiert und zusätzliche, neue Rechtfertigungsgründe akzeptiert. Der Grund der Effizienz der Steuerbeitreibung wurde erst 2006 in der Scorpio-Entscheidung[1261] höchstrichterlich anerkannt, die Vermeidung mehrfacher Verlustnutzung erstmals mit den Rechtssachen Marks&Spencer[1262], Oy AA[1263] und Lidl Belgium[1264] aus dem Jahr 2005. Diese Verfahren leiteten auch eine großzügigere und somit mitgliedstaatsfreundliche Interpretation der Rechtfertigungsgründe der Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, der Gewährleistung wirksamer Steueraufsicht sowie der Kohärenz ein[1265]. Als Wendepunkt anzuführen ist insofern insbesondere das obiter dictum im Urteil Lidl Belgium, in welchem die mitgliedstaatliche Steuersouveränität ausdrücklich anerkannt und die extensive Interpretation der Grundfreiheiten infolgedessen eingedämmt wird[1266]. Die jüngere Entwicklung wird weithin als Zugehen des Gerichtshofs auf die Mitgliedstaaten, Respektierung der originären nationalen Steuerhoheit und Forcierung eines Interessensausgleichs und Vertrauens- wie auch Verständnisaufbaus begrüßt[1267].

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      Art. 107 Abs. 1 AEUV erklärt „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, … soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinflussen“ als mit dem Binnenmarkt unvereinbar. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH wird der Beihilfebegriff sehr weit verstanden, aus der Formulierung „Beihilfen gleich welcher Art“ wird gefolgert, dass nicht nur positive Leistungen des Staates, sondern ebenso Maßnahmen, welche die Belastungen verringern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, Gegenstand der Beihilfenkontrolle sein können[1268]. In jüngerer Zeit wird berechtigte Kritik an einer zu extensiven Interpretation geübt[1269]. Die Befreiungen von Steuern oder Abgaben, sog. Verschonungssubventionen gelten als klassischer Anwendungsfall dieser Rechtsprechung und sind dem Grunde nach von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasst[1270].

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      Die in der Praxis behandelten Fallkonstellationen befassen sich durchweg mit steuerlichen Maßnahmen, aber auch