für sechs Monate die Gesetzgebungsgewalt, woraufhin die Regierung per Verordnung alle „zur Wiedererstarkung der Nation notwendigen Maßnahmen“ ergreifen durfte. Das Verfassungsgesetz vom 3. Juni änderte das in Art. 90 der Verfassung von 1946 vorgesehene Verfassungsänderungsverfahren,[66] sodass die Verfassunggebung die Form einer Verfassungsänderung annahm.
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Allerdings zielte das Verfassungsgesetz auf eine Verfassungsdurchbrechung, was sich vor allem darin niederschlug, dass von den Bestimmungen des Art. 90 abgewichen wurde.[67] Die Regierung wurde ermächtigt, ein Gesetz zur Änderung der Verfassung vorzuschlagen, über das per Referendum abgestimmt werden sollte. Das Parlament als solches war aus dem Verfahren jedoch völlig ausgeblendet. Statt einer parlamentarischen Zustimmung musste die Regierung nur die Stellungnahme eines beratenden Komitees (Comité consultatif constitutionnel) sowie des Staatsrates (Conseil d’État) einholen. Dem ad hoc beratenden Komitee mussten einige Parlamentsmitglieder angehören. Schließlich beinhaltete der Entwurf der Exekutive einige materiellrechtliche Vorgaben: gesetzgebende und vollziehende Gewalt mussten direkt oder indirekt vom Volk ausgehen und weiterhin getrennt bleiben; die Regierung musste dem Parlament verantwortlich und die Rechtsprechung unabhängig sein. Kurz: Die Republik sollte weiterhin ein demokratischer Rechtsstaat bleiben. Doch waren diese Prinzipien unbestimmt genug, um der Regierung einen weiten Gestaltungsspielraum zu überlassen.
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Über diese technischen Angaben hinaus sei betont, dass in dem so konzipierten Verfassungsänderungs- bzw. Verfassunggebungsverfahren alle Instanzen und Mechanismen der parlamentarischen Demokratie ausgeschlossen wurden. Nach de Gaulles Auffassung durfte die neue Verfassung in keinem Fall das Werk der Parteien sein. In dem damaligen Krisenzustand konnte eine (sakrosankte) Verfassung nicht aus einigen, gleich ob „echten“ oder lediglich „dilatorischen“ Kompromissen gebastelt werden, sondern musste einer Grundsatzentscheidung zur politischen Form der Nation entspringen.[68] Das Pathos der Entscheidung prägte durch und durch den gaullistischen Diskurs. Die Autorität kam wieder „von oben“, das Vertrauen durch Volksabstimmung „von unten“.
c) Die Ausarbeitungs- und Annahmemodalitäten der Verfassung vom 4. Oktober 1958
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In der ersten Phase befasste sich allein die Regierung mit der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs. Der Justizminister Michel Debré leitete die „Arbeitsgruppe“, die den vorläufigen Entwurf vorbereiten sollte. Selbstverständlich hatte General de Gaulle seinerseits die allgemeine Richtung vorgegeben. Die Vorschläge der „Arbeitsgruppe“ wurden im Rahmen von Ministerialkomitees unter dem Vorsitz de Gaulles beraten und zwischen dem 23. und 25. Juli 1958 von den Regierungsmitgliedern beschlossen. Der vorläufige Entwurf wurde sodann dem Comité consultatif constitutionnel zugeleitet, das vom 29. Juli bis zum 14. August tagte und an ebenjenem Tage der Regierung seine zahlreichen Änderungsvorschläge bekannt gab.[69] Einige dieser Vorschläge wurden übernommen, wonach der veränderte Entwurf auf Beschluss eines Kabinettsrates am 20. August festgesetzt und am 21. August dem Conseil d’État vorgelegt wurde.[70] Am 27. und 28. August wurde der Entwurf schließlich von der Generalversammlung des Conseil d’État beraten. Die Eröffnungsrede des Justizministers bleibt ein wichtiges Dokument zur Erläuterung der neuen Institutionen.[71] Auf Grundlage der Stellungnahme des Conseil d’État wird der endgültige Entwurf mit einigen Änderungen am 3. September 1958 vom Ministerrat festgesetzt. Der Text wird dem französischen Volk im Rahmen einer von André Malraux inszenierten Zeremonie präsentiert, zu deren Anlass General de Gaulle seinerseits eine Rede hält, die an die berühmte in Bayeux aus dem Jahre 1946 anknüpft.[72] In einer Flutwelle der Zustimmung wurde der Verfassungsentwurf mit 82% der abgegebenen Stimmen und somit von insgesamt 66% der Wahlberechtigten per Referendum befürwortet. Der Verfassungstext wurde am 4. Oktober 1958 in Form eines Verfassungsgesetzes verkündet. Die Fünfte Republik war aus der Taufe gehoben worden.
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Genau vier Monate verstreichen zwischen de Gaulles Ernennung und der Annahme der Verfassung – ein Verfahren im militärischen Sturmschritt, aber auch ein geheimes Verfahren, da die Beratungen des Comité consultatif constitutionnel und des Conseil d’État jeweils unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Diese Beratungen sind stricto sensu weniger als „Gesetzesmaterial“ zur Verfassung von 1958 zu verstehen denn als einfache Meinung in der Verfassungsinterpretation.[73] Umso verwunderlicher ist es, dass sich die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit[74] zuweilen auf die Debatten des Comité consultatif constitutionnel von 1958 berufen, als ob sie den authentischen Sinn der Verfassung zum Ausdruck brächten.
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Nach Maßgabe der Art. 91 und 92 der Verfassung von 1958 (im Folgenden: CF) waren die Institutionen der Republik innerhalb von vier Monaten zu bilden. Ein Punkt sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben: Zur Bildung der Institutionen wurde die Regierung dazu ermächtigt, die erforderlichen Texte mittels Ordonnances zu erlassen. Auf Grundlage dieser Ermächtigung erließ die Exekutive beinahe sämtliche zur Verfassungsergänzung notwendigen Normen, die von Verfassung wegen eher als Organgesetze höheren Ranges einzustufen sind denn als einfache Gesetze. Die Exekutive vervollständigte hierdurch die Verfassung, die sie sich soeben gegeben hatte. In der Form ihrer Annahme sowie der ihrer Umsetzung brachte die Verfassung unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Fünfte Republik ein Regime exekutiver Prägung war.
§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › I. Ursprung und Entstehung des Verfassungssystems der Fünften Republik › 4. Die gestaltenden Verfassungsideen
a) Das Erbe der Résistance
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Die Gedanken, welche die Errichtung des institutionellen Bauwerks der Fünften Republik entscheidend prägen, entspringen der Reformbewegung der 1930er Jahre. Diese Bewegung hat zahlreiche Theoretiker aus Kreisen der Résistance beeinflusst und sie während des Zweiten Weltkriegs zur Ausarbeitung bedeutender Verfassungsprojekte bewegt, die 1946 überhaupt nicht berücksichtigt wurden, im Jahr 1958 hingegen teilweise großen Anklang gefunden haben.[75] Die gaullistische Bewegung setzt in den Anfangsjahren die verfassungsrechtlichen Überlegungen der 1930er Jahre und der Résistance fort. Die Grundsatzfrage bleibt dieselbe: Wie kann in einem republikanischen Rahmen dem ein Ende gesetzt werden, was André Tardieu als „die Regierung des parlamentarischen Despotismus“ bezeichnete?[76] Raymond Carré de Malbergs Analyse aus den 1920er Jahren diente der Antwort auf diese Frage als Ausgangspunkt. Im Gegensatz zu den von Adhémar Esmein oder Léon Duguit[77] vertretenen Positionen zeigte Carré de Malberg, dass das parlamentarische Regime der Dritten Republik kein Regime war, in dem „das Parlament und die Exekutive zwei verschiedene Gewalten darstellen und jede ihrerseits zur Repräsentation der Nation verpflichtet ist“, sondern ein nahezu eingleisiges, in den Parlamentskammern konzentriertes System, in welchem die Exekutive jeglicher „Willensunabhängigkeit“ entbehrt. Die Parlamentskammern „haben nicht nur den Charakter eines höchsten Organs, sondern sind eigentlich das einzige Staatsorgan“[78]. Carré de Malberg zufolge sind in Frankreich alle republikanischen Verfassungssysteme von entscheidender „Widersprüchlichkeit“ gezeichnet, von einer „Mystifizierung“, namentlich der Anmaßung des Parlaments, die ausschließliche Befugnis zur Ausübung der souveränen Rechte der Nation innezuhaben. Abhilfe geleistet wird dem insbesondere durch die Einführung plebiszitärer Elemente, durch die der Regierung gegenüber dem Parlament gewährte Unabhängigkeitsgarantie und durch die Volkswahl des Staatschefs.[79] Die beiden zentralen Gestalten im Rahmen dieser Debatten unter General de Gaulle sind Michel Debré, erster Premierminister der Fünften Republik, und René Capitant,[80] beide ehemals Mitglieder der militanten Résistance.
b) De