de Gaulle im parlamentarischen Absolutismus den Hauptgrund für die Entgleisung des politischen Systems der Dritten Republik. De Gaulle teilt den Antiparlamentarismus, der sich im Frankreich der 1920er Jahre verbreitet. Als Offizier begegnet er dem sterilen und arroganten Politikbetrieb der Kammern mit der Figur des „Chefs“, dessen Portrait 1932 in Le fil de l’épée erscheint. Diese Konzeptionen tragen eindeutig autoritäre Züge. Allerdings werden faschistische Ausuferungen insofern unmöglich, als de Gaulles historische Legitimität gänzlich auf dem Kampf gegen den Faschismus gründet. Die elitistische Denkweise des Chefs muss mit hinreichend demokratischen Gewährleistungen in Einklang gebracht werden.[81] Eben diesen, anlässlich seiner Rede in Bayeux 1946 erstmals kundgegebenen Grundgedanken konkretisiert de Gaulle mit seiner Forderung nach einer strengen Trennung zweier Bereiche, die Georges Burdeau in seiner klassischen Analyse der Gedankenführung de Gaulles als den Bereich der „staatlichen Gewalt“ und den der „demokratischen Gewalt“ bezeichnet.[82] Erstere dient der Aufrechterhaltung staatlicher Einheit und Kontinuität und ist im „Staatschef“ verkörpert. Seine Aufgabe ist es, „als Schiedsrichter über die politischen Lappalien hinweg zu dienen“[83], das fortlaufende Funktionieren der Institutionen sicherzustellen, politische Krisen mittels des Volksentscheids zu überwinden und in Ausnahmesituationen die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen, gegebenenfalls mit Hilfe von Sonderbefugnissen. Die „demokratische Gewalt“ stellt ihrerseits die Repräsentation von Interessen sowie den Pluralismus der Meinungen im Parlament sicher und findet in der gesetzgebenden Gewalt unmittelbar Ausdruck. Diese Trennung von vollziehender und gesetzgebender Gewalt im Sinne de Gaulles ist insofern besonderer, gar radikaler Natur, als die vollziehende Gewalt nicht von der Legislative hervorgehen darf. Wahrhafter Chef der Exekutive ist der Präsident der Republik, weshalb die Regierung nunmehr vom Staatschef hervorgehen muss. Hierdurch erlangt die gesamte Exekutive ihre Unabhängigkeit von der Legislative.
c) Der Einfluss René Capitants
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Zwar befand sich René Capitant zum Zeitpunkt der Ereignisse von 1958 in Japan, doch war er schon in der Vierten Republik General de Gaulles privilegierter Ansprechpartner in verfassungsrechtlichen Fragen. Es ist bekannt, dass sich Capitant als treuer Verfechter von Carré de Malbergs Lehre unermüdlich für die Einführung plebiszitärer Elemente in das Verfassungssystem einsetzte, Elemente, die das Dogma der „parlamentarischen Souveränität“ sprengen konnten. Darüber hinaus brachte Capitant, der ein großer Kenner der Weimarer Republik war, das Carl Schmitt’sche Bild der Präsidentschaft ein. In einer Studie über den Präsidenten der Weimarer Republik aus dem Jahr 1932[84] betont Capitant die Ambivalenz der Schmitt’schen Lehre, ohne diese Ambivalenz jedoch negativ zu bewerten. Einerseits müsse der Weimarer Präsident neutrale und regulierende Gewalt ausüben, herrschen, ohne zu regieren. Die Präsidentenschaft sei „in erster Linie Schiedsrichterfunktion, die darin besteht, die Konflikte zwischen den Weimarer Verfassungsorganen beizulegen“. Diese Funktion soll er „im Interesse der nationalen Einheit“ ausüben. Andererseits aber, so Capitant, übernimmt der Weimarer Präsident „im Wesentlichen politische Aufgaben“. Um diese scheinbare Antinomie aufzulösen, muss der Neutralitätsgedanke nicht als eine Art politische Abstinenz gedeutet werden, sondern als Autonomie, als grundlegende Unabhängigkeit von jeglichen Partikular-, Partei-, Wirtschafts- oder Regionalinteressen. Nur so kann der Staatschef der immer drohenden Gefahr der „Zerstückelung und Zergliederung“ mit dem „Einheitsprinzip“ begegnen.
Es ist auffällig, wie sehr de Gaulles Konzeption der Präsidentschaft dem Idealbild entspricht, das Carl Schmitt in Der Hüter der Verfassung vom Weimarer Reichspräsidenten entwirft: „Dadurch, dass sie den Reichpräsidenten zum Mittelpunkt eines Systems plebiszitärer wie auch parteipolitisch neutraler Einrichtungen und Befugnisse macht, sucht die geltende Reichsverfassung gerade aus demokratischen Prinzipien heraus ein Gegengewicht gegen den Pluralismus sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen zu bilden und die Einheit des Volkes als eines politischen Ganzen zu wahren.“[85] Art. 5 CF definiert die Aufgaben des Präsidenten und es überrascht nicht, dort den Begriff der schiedsrichterlichen Instanz wiederzufinden und zu sehen, dass die Aufgabe des Hüters der Verfassung ausdrücklich dem Staatschef anvertraut wird: „Der Präsident der Republik wacht über die Einhaltung der Verfassung. Er sichert schiedsrichterlich (par son arbitrage) die ordnungsgemäße Tätigkeit der öffentlichen Gewalt sowie die Kontinuität des Staates. Er ist Garant der nationalen Unabhängigkeit, der Integrität des Staatsgebietes, der Einhaltung der internationalen Verträge.“ In diesem Bild der Präsidentschaft treffen sich de Gaulles Konzeptionen und die Ideen Schmitts. Der Mittelsmann dieser Verschmelzung war zweifellos René Capitant.
d) Der Einfluss Michel Debrés
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War General de Gaulle Träger einer Art heroischen und politischen Einflussnahme auf die Institutionen, so war Michel Debré de Gaulles anderer privilegierter Ansprechpartner, Techniker und Ingenieur der Details, die ermöglichen sollten, de Gaulles große Visionen in ein funktionsfähiges Verfassungssystem zu integrieren. Er war Ingenieur der Rationalisierung des Parlamentarismus und gestaltete die Gesamtheit der Mechanismen aus, die eine Bändigung des Parlaments als Institution und die Stärkung der Exekutive in ihrer Autonomie sicherstellen sollten. Seit den Jahren der Résistance hat Debré sich mit der Ausarbeitung dieser Mechanismen befasst, deren grobe Züge er unmittelbar nach Kriegsende in Refaire la France (1945) erstmals veröffentlicht. Regulierung des parlamentarischen Vertrauens gegenüber der Regierung, Umgrenzung des Bereichs der Gesetzgebung, strenge Einrahmung der parlamentarischen Sitzungsperioden, Beschränkung des parlamentarischen Initiativrechts, Beschränkung der Anzahl parlamentarischer Kommissionen, Einrichtung eines Conseil constitutionnel: die meisten Mechanismen zur Zurechtstutzung des Parlaments gehen auf von Michel Debré formulierte oder skizzierte Ideen zurück.
Doch war sein Einfluss auch insofern prägend, als er der Fünften Republik als grundlegender Richtungsweiser diente. Im Zweifelsfall hätte de Gaulles Idee einer radikalen Trennung von Exekutive und Legislative zu einem Präsidialsystem amerikanischer Prägung führen können. Michel Debré zufolge bleibt das einzig legitime Regime in Frankreich das parlamentarische.[86] Nach Auffassung Debrés geht es nicht darum, sich vom Parlamentarismus abzukehren, sondern ihn zu rationalisieren, also seine grundlegenden Prinzipien (Regierung als ein sich vom Staatschef unterscheidendes Kollegialorgan, Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, Recht zur Auflösung des Repräsentantenhauses) dergestalt in die Verfassung einzubringen, dass Handlungsfähigkeit und Stabilität der Regierung hinreichend gewährleistet werden. Ebendieses neue Verfassungsbauwerk stellte Debré dem Conseil d’État am 27. August 1958 als „Renovierung“ oder „Reform des parlamentarischen Regimes“ vor.[87]
§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems
II. Die Entwicklung des Verfassungssystems[88]
§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 1. Die Wahl des Staatschefs in allgemeiner Direktwahl und deren Folgen für das politische System
1. Die Wahl des Staatschefs in allgemeiner Direktwahl und deren Folgen für das politische System
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Die Wahl des Präsidenten der Republik in allgemeiner Direktwahl wurde erst durch das Art. 6 CF ändernde Verfassungsgesetz vom 6. November 1962 eingeführt. Seit dem Referendum vom 8. April 1962, mit dem die zwischen der französischen und der provisorischen Regierung Algeriens getroffenen Vereinbarungen von Évian massive Zustimmung finden, ist die Algerienkrise – zumindest an der Oberfläche – zu Ende. Während des Konflikts mit Algerien ist die französische Politik gleichsam zu einer „one man show“ geworden:[89] der Staatschef steht im Mittelpunkt des politischen Geschehens. Am 14. April