Martin Loughlin

Handbuch Ius Publicum Europaeum


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de Gaulle im parlamentarischen Absolutismus den Hauptgrund für die Entgleisung des politischen Systems der Dritten Republik. De Gaulle teilt den Antiparlamentarismus, der sich im Frankreich der 1920er Jahre verbreitet. Als Offizier begegnet er dem sterilen und arroganten Politikbetrieb der Kammern mit der Figur des „Chefs“, dessen Portrait 1932 in Le fil de l’épée erscheint. Diese Konzeptionen tragen eindeutig autoritäre Züge. Allerdings werden faschistische Ausuferungen insofern unmöglich, als de Gaulles historische Legitimität gänzlich auf dem Kampf gegen den Faschismus gründet. Die elitistische Denkweise des Chefs muss mit hinreichend demokratischen Gewährleistungen in Einklang gebracht werden.[81] Eben diesen, anlässlich seiner Rede in Bayeux 1946 erstmals kundgegebenen Grundgedanken konkretisiert de Gaulle mit seiner Forderung nach einer strengen Trennung zweier Bereiche, die Georges Burdeau in seiner klassischen Analyse der Gedankenführung de Gaulles als den Bereich der „staatlichen Gewalt“ und den der „demokratischen Gewalt“ bezeichnet.[82] Erstere dient der Aufrechterhaltung staatlicher Einheit und Kontinuität und ist im „Staatschef“ verkörpert. Seine Aufgabe ist es, „als Schiedsrichter über die politischen Lappalien hinweg zu dienen“[83], das fortlaufende Funktionieren der Institutionen sicherzustellen, politische Krisen mittels des Volksentscheids zu überwinden und in Ausnahmesituationen die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen, gegebenenfalls mit Hilfe von Sonderbefugnissen. Die „demokratische Gewalt“ stellt ihrerseits die Repräsentation von Interessen sowie den Pluralismus der Meinungen im Parlament sicher und findet in der gesetzgebenden Gewalt unmittelbar Ausdruck. Diese Trennung von vollziehender und gesetzgebender Gewalt im Sinne de Gaulles ist insofern besonderer, gar radikaler Natur, als die vollziehende Gewalt nicht von der Legislative hervorgehen darf. Wahrhafter Chef der Exekutive ist der Präsident der Republik, weshalb die Regierung nunmehr vom Staatschef hervorgehen muss. Hierdurch erlangt die gesamte Exekutive ihre Unabhängigkeit von der Legislative.

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      War General de Gaulle Träger einer Art heroischen und politischen Einflussnahme auf die Institutionen, so war Michel Debré de Gaulles anderer privilegierter Ansprechpartner, Techniker und Ingenieur der Details, die ermöglichen sollten, de Gaulles große Visionen in ein funktionsfähiges Verfassungssystem zu integrieren. Er war Ingenieur der Rationalisierung des Parlamentarismus und gestaltete die Gesamtheit der Mechanismen aus, die eine Bändigung des Parlaments als Institution und die Stärkung der Exekutive in ihrer Autonomie sicherstellen sollten. Seit den Jahren der Résistance hat Debré sich mit der Ausarbeitung dieser Mechanismen befasst, deren grobe Züge er unmittelbar nach Kriegsende in Refaire la France (1945) erstmals veröffentlicht. Regulierung des parlamentarischen Vertrauens gegenüber der Regierung, Umgrenzung des Bereichs der Gesetzgebung, strenge Einrahmung der parlamentarischen Sitzungsperioden, Beschränkung des parlamentarischen Initiativrechts, Beschränkung der Anzahl parlamentarischer Kommissionen, Einrichtung eines Conseil constitutionnel: die meisten Mechanismen zur Zurechtstutzung des Parlaments gehen auf von Michel Debré formulierte oder skizzierte Ideen zurück.

      § 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems

      § 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 1. Die Wahl des Staatschefs in allgemeiner Direktwahl und deren Folgen für das politische System

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