Martin Loughlin

Handbuch Ius Publicum Europaeum


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der Gunst des Präsidenten zu verdanken hat. Das Regime präsidentialisiert sich in verstärktem Maße und es stellt sich die Frage nach der Nachfolge. De Gaulles Legitimität ist weniger demokratischer Natur denn historischer, und die Wahl, wie sie 1958 eingeführt wurde (durch ein Wahlkolleg aus Abgeordneten und Repräsentanten der départements und Gemeinden) kann de Gaulles Nachfolger nicht mit der zur Ausübung des herausragenden politischen Amtes erforderlichen Legitimität ausstatten.[90] Am 22. August stellt sich die Frage in zugespitzter Form: Ein von den Nostalgikern des französischen Algeriens verübtes Attentat in Petit-Clamart hätte den Staatschef beinahe das Leben gekostet. Dieses Ereignis beschleunigt den Verlauf einer vorausgeplanten Reform.

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      Die Wahl des Präsidenten in allgemeiner Direktwahl hat das politische System der Fünften Republik spürbar modifiziert und zugleich einige seit de Gaulles erstem Mandat prägende Züge verfestigt und verstärkt. Ausgeübt und verkörpert wurde die Staatsgewalt während des Algerienkriegs weitestgehend durch den Staatschef, der zu dieser Zeit aus der Symbolkraft der nationalen Einheit und der Mystik des Kriegschefs Nutzen ziehen konnte. Zum entscheidenden Zeitpunkt des Militärputsches in Algerien (April 1961) ergriff der Staatschef die Sonderbefugnisse aus Art. 16 CF und konzentrierte somit effektiv die Gesamtheit der vollziehenden und gesetzgebenden Gewalten in seiner Person. Kurzum, Frankreich erlebte einen Staatschef, der effektiv und unmittelbar „regierte“. Die Volkswahl bestätigte diese Entwicklung.

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      § 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 2. Die Belastbarkeitsproben der präsidentiellen Wechsel und der „Cohabitation“

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      Die Normalisierung des Regimes wurde durch drei die politische Geschichte Frankreichs prägende Phänomene oder Ereignisse verfestigt. Das erste andauernde Phänomen war das gemeinhin so genannte Mehrheitsfaktum (fait majoritaire). Die auf das Referendum von 1962 folgenden Wahlen haben das politische Leben Frankreichs insofern nachhaltig polarisiert, als das traditionelle Vielparteiensystem sich nunmehr auf zwei hinreichend stabile Pole verteilte, um stabile Mehrheitskoalitionen bilden zu können. In den teilweise höchst angespannten Perioden, die einige Mehrheitskoalitionen schon erlebt haben (beispielsweise 1976–1981), reichen die Mechanismen zur Rationalisierung des Parlamentarismus und insbesondere das ausgeklügelte System des Art. 49 Abs. 3 CF (unten Rn. 83) zur Aufrechterhaltung der amtierenden Regierung aus. Ebendiese Mechanismen haben auch die Stabilität einer von der kommunistischen Partei geduldeten Minderheitsregierung gewährleistet (1988–1993). Die Polarisierung der französischen Politik wird jedoch seit Anfang der 1990er Jahre langsam, aber mit zunehmendem Nachdruck, im Lichte mehrerer Faktoren in Frage gestellt: Eine anhaltende Massenarbeitslosigkeit und ein Gefühl sozialer Unsicherheit fördern den Machtzuwachs extremer Parteien, die Spaltung in der europäischen Frage deckt sich nicht mit den Spaltungen, die auch die rechten und linken Flügel strukturieren, sondern spaltet die großen Parteien selbst in verschiedene Lager und die Präsidentenwahl begünstigt individuelle Ambitionen und setzt die Parteien höchstem internen Druck aus, der im Zweifelsfalle auch zu Brüchen führt. Das „Mehrheitsfaktum“ ist also nicht der horizon indépassable der Fünften Republik.

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