1970er Jahre war denn auch die Frage nach der rechtlichen Natur des Conseil constitutionnel (unten Rn. 73). Während das deutsche Bundesverfassungsgericht im berühmten Status-Bericht von 1952 neben seiner vom Grundgesetz eindeutig normierten Eigenschaft als Rechtsprechungsorgan auch seine Eigenschaft als Verfassungsorgan mit dem Ziel durchgesetzt hat, seine Legitimität zu verfestigen und eine extensive Konzeption seiner Aufgabenfelder durchzusetzen, hat der Conseil constitutionnel als „öffentliche Gewalt von Verfassungs wegen“ in entgegengesetzter Richtung seine Eigenschaft als Rechtsprechungsorgan behauptet und verfestigt. Auch hier ging es darum, dieser Institution, ohnegleichen in der Geschichte, über die mehrdeutigen Gesetzestexte hinaus ein legitimatorisches Fundament zu geben. Dies hat der Conseil constitutionnel zunächst schrittweise und vorsichtig bewerkstelligt: einerseits, indem er recht bald die üblicherweise den Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbehaltene Form für seine Entscheidungen übernommen hat,[108] andererseits, sogar deutlicher, indem er Art. 62 CF, der die Bindungswirkung von Entscheidungen des Conseil constitutionnel normiert, dahingehend interpretiert hat, dass diesen Entscheidungen formelle Rechtskraft (autorité de chose jugée) zukomme.[109] Doch sollten zwei bedeutende Ereignisse im Laufe der 1970er Jahre eine tief greifende Veränderung der Funktionen des Conseil constitutionnel zur Folge haben.
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Zunächst trägt die berühmte Entscheidung vom 16. Juli 1971 zu einer beachtlichen Ausweitung seines Auftrags bei. Mit der Erkenntnis, dass die Präambel der Verfassung von 1958 über einen rechtlichen Gehalt verfügt und diese Präambel Bezug nimmt auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und die Präambel der Verfassung von 1946, spricht der Conseil constitutionnel diesen beiden Texten Verfassungsrang zu und ergänzt das geltende Verfassungsrecht durch eine Reihe von Freiheits- und Grundrechten, die dem förmlichen Verfassungstext von 1958 fehlen. Diese Rechte werden insofern zu maßgeblichen Normen der Verfassungsmäßigkeitskontrolle, als der Conseil constitutionnel seinem Auftrag zur „Regulierung der öffentlichen Gewalt“ den Auftrag zur Verteidigung der Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten hinzufügt.[110] Jedoch hätte diese Ausdehnung allein nicht genügt, um dem Conseil constitutionnel eine derart starke Stellung im politischen System Frankreichs zu verschaffen. In der Tat konnte die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nur auf Antrag eines begrenzten Personenkreises in Gang gesetzt werden, namentlich auf Antrag des Staatschefs, des Regierungschefs sowie der Präsidenten beider Parlamentskammern. Mit der Verfassungsänderung vom 29. Oktober 1974 wurde auch einer Mindestzahl von jeweils 60 Abgeordneten oder Senatoren das Recht eingeräumt, den Conseil constitutionnel zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle einfacher Gesetze anzurufen. Seitdem ist also der parlamentarischen Opposition die Möglichkeit gegeben, von der Mehrheit beschlossene und verabschiedete Gesetze in Frage zu stellen. Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen wurde alsbald zum gewöhnlichen Verfahren und stellte nunmehr eine wesentliche Garantie der parlamentarischen Minderheitenrechte dar. Präsident Giscard d’Estaing, der die Initiative zu dieser Reform ergriffen hatte, erklärte in einer recht optimistischen Rede vor dem Conseil constitutionnel am 8. November 1977 den „Rechtsstaat“ in Frankreich somit endgültig für errichtet.[111]
§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 5. Die Verfassungsänderung
a) Das ordentliche Verfahren gemäß Art. 89 der Verfassung
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Die Voraussetzungen der Verfassungsänderung sind in Art. 89 CF geregelt. Die Formen und Annahmeverfahren der Gesetze von Verfassungsrang unterscheiden sich erheblich von denen einfacher Gesetze. Das Antragsrecht zur Verfassungsänderung steht „konkurrierend“ dem Präsidenten der Republik und den Parlamentsmitgliedern zu. Der Antrag des Präsidenten erfordert insofern eine Übereinstimmung beider Oberhäupter der Exekutive, als er nur auf Vorschlag des Premierministers gestellt werden kann. Darüber hinaus kann jedes Parlamentsmitglied, gleich ob Abgeordneter oder Senator, die Initiative zur Verfassungsänderung ergreifen. Allerdings muss der parlamentarische Änderungsvorschlag, um beraten zu werden, auf die Tagesordnung einer der beiden Parlamentskammern gesetzt werden (unten Rn. 86).
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Art. 89 CF unterteilt das Ausarbeitungsverfahren in zwei unterschiedliche Phasen: die Annahmephase und die Approbationsphase. Die erste Phase erfolgt im gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren: Die beiden Kammern des Parlaments müssen sich auf eine Gesetzesvorlage einigen, die auf Grundlage des ursprünglichen Vorschlags ausformuliert wurde, wobei Änderungsanträge gestellt werden können. Daraufhin wird das Gesetz unter den gewöhnlichen Mehrheitsvoraussetzungen angenommen. Im Unterschied zum gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren ist die Übereinstimmung beider Kammern allerdings unerlässlich, was konkret bedeutet, dass die Nationalversammlung sich über den Widerstand des Senats nicht hinwegsetzen kann. Nachdem das Gesetz angenommen wurde, wird es einem speziellen Approbationsverfahren unterzogen, das entweder in Form eines Referendums oder im Rahmen des „Kongresses“ erfolgt. Der Kongress vereint die Mitglieder beider Parlamentskammern und ist als parlamentarische Sonderversammlung aufzufassen.[112] Die Approbation hat mit einer Mehrheit von drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen zu erfolgen. Indes ist dieses Approbationsverfahren (im Kongress) nur für den Fall zulässig, dass die Initiative zur Verabschiedung eines verfassungsändernden Gesetzes vom Staatspräsidenten ausgeht. In diesem Fall steht es im Ermessensspielraum des Präsidenten, zwischen Approbation durch den Kongress oder Approbation per Referendum zu entscheiden. Im Gegenzug kann einem parlamentarischen Vorschlag zur Änderung der Verfassung nur per Referendum zugestimmt werden. Die Mehrzahl der achtzehn auf Grundlage des Art. 89 CF durchgeführten Verfassungsänderungen wurde vom Kongress verabschiedet.
b) Das fragwürdige Verfahren gemäß Art. 11 der Verfassung
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Als General de Gaulle im Jahr 1962 die Veränderung des Präsidialwahlsystems in Angriff nimmt, beschließt er, Art. 89 CF zu umgehen, der die Übereinkunft der Parlamentskammern voraussetzt. Hierzu greift er auf das von Art. 11 CF vorgesehene Verfahren zurück: Auf Vorschlag der Regierung kann der Staatschef „jede die Organisation der öffentlichen Gewalt betreffende Gesetzesvorlage“ im Rahmen eines Referendums dem Volk unterbreiten. Zwar betrifft der Präsidialwahlmodus zweifelsohne die „Organisation der öffentlichen Gewalt“, doch ist hierzu eine formelle Veränderung des Verfassungstexts erforderlich, was ordnungsgemäß nur auf Grundlage des Art. 89 CF geschehen kann, der seinerseits die Möglichkeit des Referendums vorsieht. Die Entscheidung, auf Art. 11 CF zurückzugreifen, um den Verfassungstext zu ändern, war ein deutliches Zeichen dafür, wie die Exekutive das Parlament nun gering schätzen konnte, und war – beraubt man die besondere Vorschrift aus Art. 89 CF nicht ihres Zwecks – ein verfassungswidriger Akt.[113]
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Nach dem erfolgreichen Referendum vom 28. Oktober 1962 wurde der Conseil constitutionnel vom Senatspräsidenten mit dem Gesuch angerufen, das Gesetz für verfassungswidrig zu erklären. In seiner berühmten Entscheidung vom 6. November 1962 verkündet der Conseil constitutionnel jedoch, er sei für ein solches Gesuch nicht zuständig. Art. 61 CF überantworte dem Conseil ohne genauere Angaben die Aufgabe, die Verfassungsmäßigkeit von „Gesetzen“ zu beurteilen. Doch ergebe sich laut Conseil constitutionnel aus dem „Geist der Verfassung“, dass diese Gesetze ausschließlich parlamentarische seien und nicht etwa „solche, die vom Volk im Rahmen eines Referendums angenommen werden und insofern die nationale Souveränität unmittelbar zum Ausdruck bringen“[114]. Die Begründung des Conseil constitutionnel hat zur Folge, dass alle Referendumsgesetze seiner Zuständigkeit entzogen sind.[115] Kritisch