Ziel der Deregulierung – die Entlastung der Verwaltung – wird durch den eintretenden Bedeutungszuwachs der repressiven Kontrolle allerdings in Frage gestellt.
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Die Deregulierung im Baurecht hat ihren Preis. Sie zieht verschiedene Folgen nach sich, die insgesamt nicht unproblematisch sind und derer man sich zumindest bewusst sein sollte. Die Auswirkungen können unterteilt werden in Konsequenzen für den Bauherrn, für den Nachbarn sowie für die Verwaltung. Für den Bauherrn besteht die entscheidende Konsequenz der Deregulierung in einem Verlust an Rechtssicherheit und einem größeren Maß an Eigenverantwortung. Ob sein Vorhaben wirklich den öffentlich-rechtlichen Vorschriften entspricht, dafür trägt (soweit dies die Bauaufsichtsbehörde nicht mehr oder – wie im vereinfachten Genehmigungsverfahren – nicht mehr vollumfänglich prüfen muss) nicht mehr der Rechtsträger der Behörde die (Haftungs-)Verantwortung, sondern allein der Bauherr oder die von ihm beauftragten Architekten bzw. Ingenieure und Sachverständigen. Aus diesem Grund wird von der Privatisierung des Bauordnungsrechts gesprochen[112]. Daher verwundert es nicht, dass in denjenigen Bundesländern, die dem Bauherrn trotz des Vorliegens der Voraussetzungen für einen deregulierten Kontrollmechanismus die Möglichkeit einräumen, in das (vereinfachte) Baugenehmigungsverfahren einzutreten, dieses „Wahlrecht nach oben“[113] häufig ausgeübt wird[114]. Für den Nachbarn führt die Deregulierung tendenziell zu einem Verlust an Rechtsschutz. Der Wegfall der Genehmigungspflichtigkeit eines Wohnhauses[115] bedeutet etwa, dass er nicht mehr die für ihn praktikablen Rechtsbehelfe Anfechtungswiderspruch und -klage zur Hand hat. Stattdessen ist der Nachbar auf das Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde angewiesen, das er nur auf dem für ihn zunächst weniger erfolgversprechenden Weg des Verpflichtungswiderspruchs und der Verpflichtungsklage erreichen kann[116]. Seitens der Verwaltung sind – auch angesichts der Personalknappheit – Vollzugsdefizite bei der staatlichen Überwachung zu beklagen[117]. Insgesamt ist die Entwicklung der Deregulierung daher nicht zu begrüßen[118], wenngleich eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) durch die Verlagerung auf die repressive Überwachung nicht behauptet werden kann[119]. Mit der skizzierten Entwicklung, die im Bauordnungsrecht stattgefunden hat, fügt sich dieses Rechtsgebiet in die allgemeine Entwicklung des Verwaltungsrechts der letzten Jahrzehnte ein: Deregulierung und Privatisierung waren Schlüsselbegriffe der Verwaltungsrechtsreform[120].
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Instrument der klassischen präventiven Kontrolle ist die Baugenehmigung. Sie zeichnet sich unter anderem durch ihre Klammerfunktion im Prüfprogramm aus: Denn trotz ihrer systematischen Stellung im Bauordnungsrecht wird eine Baugenehmigung nicht schon erteilt, wenn allein die (1) bauordnungsrechtlichen Vorschriften eingehalten werden; vielmehr prüft die Bauaufsichtsbehörde darüber hinaus auch die Einhaltung von (2) Bauplanungsrecht und – mit gewissen Einschränkungen – (3) sonstigem Öffentlichen Recht (dazu gleich näher). Insofern wird auch von einem Drei-Säulen-Modell gesprochen[121]. Im Zuge der Deregulierung verabschiedete man sich weitgehend von dieser umfassenden Prüfpflicht der Behörde. Es entstand ein verfeinertes, aber nicht gerade übersichtliches präventives Kontrollsystem. Insoweit können heute vier verschiedene Typen unterschieden werden:
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Systematisch an erster Stelle ist die klassische Baugenehmigung zu nennen. Sie wird von den Landesbauordnungen weiterhin für bestimmte Vorhaben, insbesondere Sonderbauten, verlangt und zeichnet sich durch den vergleichsweise größten Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörden aus (s.o.)[122]. An zweiter Stelle steht das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren[123]. In der Praxis kommt diesem Typus bei weitem die größere Bedeutung zu[124]. Im Vergleich zum klassischen Baugenehmigungsverfahren ist der verringerte Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörde Charakteristikum des vereinfachten Verfahrens. So sind etwa von den bauordnungsrechtlichen Anforderungen nur noch ausgewählte zu prüfen. Eine weitere Reduktion stellt – drittens – die Genehmigungsfreistellung (Bauanzeigeverfahren oder Kenntnisgabeverfahren) dar, bei der die Bauaufsichtsbehörde nur noch (aber immerhin doch noch) von dem Bauvorhaben in Kenntnis gesetzt wird[125]. Demgegenüber befreit – viertens – die Verfahrensfreistellung von jeglicher präventiver Kontrolle[126].
II. Die Bauaufsichtsbehörden
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Die Bauaufsicht und damit auch die Zulassung von Bauvorhaben wird von den Bauaufsichtsbehörden[127] wahrgenommen. Dabei ist der Begriff der Bauaufsichtsbehörde funktionell, nicht im organisatorischen Sinne zu verstehen und beschreibt alle Amtsstellen innerhalb der unmittelbaren und mittelbaren Staatsverwaltung, die auf dem Gebiet des Städtebaus und der Bauaufsicht Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zu erfüllen haben. Außer in Berlin und Hamburg[128] regeln die Landesbauordnungen in Verbindung mit den Landesorganisationsgesetzen die Zuständigkeit der Bauaufsichtsbehörden, deren Aufbau zwei- oder dreistufig sein kann. Instanziell zuständig sind i.d.R.[129] die unteren Bauaufsichtsbehörden[130]. Diese sind in den Flächenstaaten die jeweilige (Land-)Kreisverwaltung, die kreisfreien Städte/Stadtkreise sowie bestimmte sonstige große Städte[131]. Sind die Gemeinden untere Bauaufsichtsbehörden, erfüllen sie diese Aufgabe als Pflichtaufgabe nach Weisung bzw. als Auftragsangelegenheit, d.h. sie sind der Fachaufsicht bzw. Sonderaufsicht unterworfen. In den Stadtstaaten nehmen in der Regel die Bezirksämter die Aufgaben der Bauaufsichtsbehörde wahr. Örtlich zuständig ist gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG der Länder[132] die Bauaufsichtsbehörde, in deren Bezirk das Bauvorhaben liegt.
1. Baufreiheit nur nach Maßgabe des einfachen Rechts
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Nach allen Landesbauordnungen hat der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung, sofern dem Vorhaben keine (von der Bauaufsichtsbehörde zu prüfenden) öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen[133]. Sofern die zu prüfenden „öffentlich-rechtlichen Vorschriften“ der Genehmigungsbehörde allerdings Ermessen einräumen (z.B. § 31 BauGB), besteht auch nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Der Genehmigungstatbestand ist als ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, also eine bloße Kontrollerlaubnis, zu interpretieren[134]. Das Bauen soll nämlich nicht generell unterbleiben; vielmehr dient das Verbot lediglich der Sicherstellung, dass die – zugunsten von Nachbarn und der Allgemeinheit erlassenen – Baubeschränkungen vom Bauherrn auch wirklich eingehalten werden.
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Soweit sich hinter der Begriffsverwendung ‚Kontrollerlaubnis‘ allerdings die Auffassung von einer grundrechtlich fundierten Baufreiheit verbirgt, die das Bauverbot zu einem bloß formellen werden lässt, muss widersprochen werden: Eine grundrechtlich gewährleistete Baufreiheit[135] lässt sich nach dem Nassauskiesungsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts[136] dogmatisch nur schwer begründen[137]. Art. 14 GG, auf den von den Befürwortern der Baufreiheit stets verwiesen wird, trifft als normgeprägtes Grundrecht gerade keine Aussage zur Baufreiheit[138]. Eine solche könnte nur dem einfachen Recht[139], insbesondere den Landesbauordnungen entnommen werden. Diese gehen zwar in der Tat von einem Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung aus, knüpfen diese Rechtsfolge aber an erhebliche Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere an die Vereinbarkeit mit dem Bauplanungsrecht; entscheidend ist damit regelmäßig der maßgebliche Bebauungsplan. Daher kann de lege lata keineswegs von grundsätzlicher Baufreiheit gesprochen werden[140], auch wenn dieses Ergebnis rechtspolitisch erwünscht sein mag[141], weil es eben keine naturrechtlich oder anders begründete[142] grundsätzliche Baufreiheit gibt. Eines ist allerdings richtig: Auch Bebauungspläne müssen mit Art. 14 GG vereinbar, also insbesondere verhältnismäßig sein; der Gesetzgeber muss schon wegen der Institutsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG einen Kernbestand von Normen schaffen, die