Matthias Jahn

Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen


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ablesen. Von den fast 140 Jahren seit Inkrafttreten der Strafprozessordnung fallen mehr als 60 Jahre in die Geltung des Bonner Grundgesetzes und nur zwei Jahre weniger in die Phase der Spruchtätigkeit des BVerfG in Strafsachen. Das Strafprozessrecht ist daher in ganz besonderem Maße vom Verfassungsrecht geprägt. Es lässt sich sogar sagen, dass das Strafverfahren in seiner heutigen Gestalt auf dem Mutterboden des Bonner Grundgesetzes gediehen ist. Dies hängt unmittelbar mit der Dichotomie von staatlichem Sanktionenanspruch und dem Schutz der Beschuldigtenrechte zusammen. Strafprozessrecht ist deshalb konkretisiertes Verfassungsrecht – bereits vor einem Vierteljahrhundert eine stehende Redensart.[4] Für das materielle Strafrecht ist das Verhältnis der beiden Rechtsmaterien sicherlich differenzierter zu bewerten.[5] Wie ist es allerdings ganz grundsätzlich um die Realität des oft zitierten Satzes bestellt, wenn die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Schutzansprüche in einem konkreten Strafverfahren vom BVerfG eingefordert werden soll? Ist das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG), um das berühmte Wort von Eberhard Schmidt[6] abzuwandeln, in puncto Schutz der Mandantenrechte auch ein Ergänzungsgesetz zur Strafprozessordnung? Die nachfolgenden Überlegungen versuchen, auf diese Frage eine für das Alltagsgeschäft des Verteidigers in Strafsachen brauchbare Antwort zu geben.

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      Anmerkungen

       [1]

      Gekürzter Vorabdruck in ZIS 2009, 511-518.

       [2]

      Bereits von den im Jahre des Erscheinens der Vorauflage dieses Buchs – 2011 – eingegangenen 2.183 Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen der ordentlichen Gerichte betrafen 1.412 Strafsachen. Erst dann folgten – mit weitem Abstand – 771 Zivilsachen, vgl. Stüer DVBl. 2012, 751 (753). Zu praktischen Konsequenzen der Eingangszahlen für das Annahmeverfahren siehe unten Rn. 54.

       [3]

      Schorkopf in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 2011, S. 111, wirft auch gleich noch einige die tatsächliche Situation gut ausleuchtende Schlaglichter: „Haftsachen, bei denen eine überlange Verfahrensdauer gerügt wird; Verurteilungen, die auf der Grundlage überkommener oder neuer Tatbestände ergangen sind; Vollstreckungssachen, in denen Einzelheiten des JVA-Alltags bemängelt werden und die zahllosen Klageerzwingungsverfahren, mit denen Bürgern meistens nach Gehör und Zuspruch für Leid und Kränkungen suchen“.

       [4]

      Niemöller/Schuppert AöR 107 (1982), 389. Der Satz geht zurück auf das Vorwort von Henkel zur 1. Aufl. (1953) seines Lehrbuches zum Strafverfahrensrecht: „Es lässt sich daher […] der Standpunkt vertreten, dass das