doch ging dort alles wie am Schnürchen, als ob sie selbst anwesend wäre. Als ich sieben Jahre alt war, hatte ich eine Deutsche, Margarete hieß sie, zur Bedienung: sie kämmte mich und zog mich an, dann wurde Miß Dreadson geweckt, und wir gingen zu Mama. Doch bevor wir uns begrüßten, musterte mich Mama sehr eingehend, sah mir prüfend ins Gesicht, drehte mich dreimal um, überzeugte sich, ob alles in Ordnung war, beguckte sogar meine Füße, ließ mich einen Knix machen, den sie mit kritischem Auge prüfte – und dann erst küßte sie mich auf die Stirn und entließ mich. Nach dem Frühstück machte ich einen Spaziergang oder bei schlechtem Wetter eine Spazierfahrt . . .«
»Und nun erzählen Sie, wie Sie gespielt haben und herumgetollt sind!«
»Herumgetollt? Das bin ich nie! Miß Dreadson ging neben mir her und ließ mich nie weiter als drei Schritte von sich fort. Einmal warf ein Knabe einen Ball, der mir zwischen die Füße flog – ich nahm den Ball und lief hin, um ihn dem Knaben zurückzugeben. Miß Dreadson sagte es Mama, und ich durfte nun drei Tage lang nicht meinen Spaziergang machen. Übrigens weiß ich nur wenig aus jener Zeit; so viel ist mir noch in Erinnerung geblieben, daß ich bei einem Tanzmeister Unterricht hatte, der immer rief: chassez en avant, chassez á gauche, tenz-vous droit, pas de grimasses . . . Nach dem Mittagessen durfte ich in dem großen Saale Ball spielen und über das Seil springen, doch nur ganz vorsichtig und leise, daß ich nicht etwa einen Spiegel zerschlage oder zu laut herumspringe. Mama liebte es nicht, wenn ich rote Backen und Ohren hatte, darum durfte ich nie zu viel herumlaufen. Man tadelte auch, daß ich . . .« – sie lächelte bei diesen Worten – »beim Zeichnen und Schreiben, ja sogar beim Tanzen die Zunge heraussteckte – darauf bezog sich das pas de grimasses, das jeden Augenblick ertönte.«
»Chassez en avant, chassez á gauche und pas de grimasses! Ja, das nenne ich eine vortreffliche Erziehung, ganz wie die Dressur beim Regiment! Nun, und was weiter?«
»Weiter bekam ich dann eine Französin, Madame Clary, aber . . . die wurde bald entlassen, ich weiß nicht, aus welchem Grunde. Ich erinnere mich nur, daß Papa sehr lebhaft für sie eintrat, doch Mama wollte nichts von ihr wissen . . .«
»Nun, jetzt sehe ich, daß Sie keine Kindheit gehabt haben: das erklärt mir so manches . . . Was haben Sie sonst noch gelernt?« fragte Raiski.
»O, allerhand: histoire, geographie, calligraphie, orthographie, dann noch Russisch . . .«
Hier machte Sofia Nikolajewna eine kleine Pause.
»Nun kommen wir wohl an die Katastrophe, vermut’ ich, und ihr Held – war der russische Lehrer!« sagte Raiski. »Das sind unsere jeunes premiers . . .«
»Ja . . . Sie haben es erraten!« versetzte die Bjelowodowa lächelnd.
»Meine Leistungen waren in allen Gegenständen dieselben – das heißt überall gleich schlecht. In der Geschichte wußte ich nur über das Jahr 1812 Bescheid, weil mon oncle le prince Serge damals als Offizier den Feldzug gegen Napoleon mitgemacht hatte und oft davon erzählte. Ich wußte, daß es einmal eine Katharina II. gegeben hat, und eine Revolution, die Mr. de Querney zur Flucht gezwungen hatte; alles übrige, all die Kriege der Griechen und Römer, und was man mir von Friedrich dem Großen erzählte, lief in meinem Kopfe wirr durcheinander. In der russischen Stunde jedoch, bei Mr. Jelnin, lernte ich fast alles, was ich aufbekam.«
»Bis hierher geht alles ausgezeichnet. Was haben Sie sonst noch getrieben?«
»Wir lasen viel. Er las sehr schön vor, brachte Bücher mit.«
»Was für Bücher?«
»Ich hab’s schon vergessen. . .«
»Nun, was weiter, Cousine?«
»Als ich dann sechzehn Jahre alt war, bekam ich meine besonderen Zimmer. Ma tante Anna Wassiljewna wohnte mit mir zusammen, und Miß Dreadson reiste nach England ab. Ich trieb viel Musik, hatte noch meinen französischen Professor und den russischen Lehrer – es hieß nämlich damals allgemein, man müsse Russisch fast ebenso geläufig können wie Französisch . . .«
»Und Mr. Jelnin war sehr . . . sehr . . . liebenswürdig und nett . . . und comme il faut? . . .« fragte Raiski.
»Oui, il était tout á fait bien!« sagte leicht errötend die Bjelowodowa. »Ich hatte mich an ihn gewöhnt . . . und wenn er einmal die Stunde ausfallen ließ, war ich verdrießlich, und einmal erkrankte er und kam drei Wochen lang gar nicht . . .«
»Da waren Sie wohl ganz verzweifelt?« unterbrach sie Raiski. »Sie weinten, hatten schlaflose Nächte und beteten für ihn? Nicht wahr? . . .«
»Er tat mir leid – und ich bat sogar Papa, er möchte hinschicken und fragen lassen, wie es ihm geht . . .«
»Sogar das! Nun, und was sagte Papa?«
»Er fuhr selbst hin, fand ihn als Rekonvaleszenten vor und brachte ihn zum Mittagessen mit in unser Haus. Mama war zuerst sehr ungehalten und machte Papa eine Szene, aber Jelnin war ein so wohlerzogener und bescheidener junger Mann, daß sie sich beruhigte und ihn sogar zu unseren soirées musicales und dansantes einlud. Er war recht gewandt im Benehmen, spielte die Violine . . .«
»Was weiter?« fragte Raiski ungeduldig.
»Als Papa ihn damals nach der Krankheit zum erstenmal zu uns brachte, war er blaß und wortkarg . . . seine Augen waren so matt . . . Ich fühlte solches Mitleid mit ihm, und ich fragte ihn bei Tisch, was ihm gefehlt habe? . . . Er sah mich so dankbar, fast zärtlich an . . . Nach Tisch aber führte mich Mama auf die Seite und erklärte mir, es sei höchst unschicklich, daß ein junges Mädchen sich nach der Gesundheit eines ersten besten jungen Menschen, noch dazu eines Lehrers, erkundige – Gott weiß, was an ihm ist! fügte sie hinzu. Ich schämte mich, ging in mein Zimmer und weinte und habe ihn nie wieder nach etwas gefragt . . .«
»Da sehen Sie’s!« bemerkte Raiski spöttisch. »Kaum hatten Sie den Olymp verlassen und einen Fuß unter die Menschen gesetzt, so gab es auch schon Strafpredigten!«
»Unterbrechen Sie mich nicht: ich verliere sonst den Faden!« sagte sie. »Jelnin fuhr fort, mit mir zu lesen, und regte mich auch an, selbst etwas zu schreiben, aber Mama wünschte, daß ich mehr den französischen Aufsatz pflegen sollte.«
»Und Jelnin las dann nur noch mit Ihnen?«
»Ja, wir lasen sehr viel, und dann begleitete er mich auch auf der Violine, wenn ich Klavier spielte. Er war so sonderbar, versank bisweilen ganz in Nachdenken und sprach eine halbe Stunde lang kein Wort. Rief ich ihn dann beim Namen, so fuhr er zusammen und sah mich ganz seltsam an . . . so, wie auch Sie mich bisweilen ansehen. Oder er setzte sich so dicht zu mir hin, daß er mich erschreckte. Doch konnte ich ihm nicht böse sein . . . ich hatte mich an diese Absonderlichkeiten gewöhnt. Einmal legte er seine Hand auf die meinige: es war mir sehr peinlich, aber er bemerkte selbst nicht, was er tat – und ich zog meine Hand nicht fort. Und wie er einmal wegblieb, als wir zusammen üben sollten, empfing ich ihn am nächsten Tage sehr kühl . . .«
»Bravo! Und was sagten die Ahnen dazu?«
»Ja, lachen Sie nur, Cousin: es war wirklich zum Lachen!«
»Ich lache nicht, Cousine, sondern ich freue mich: nicht wahr, damals lebten Sie doch, damals waren Sie glücklich und froh – nicht so wie später, wie jetzt? . . .«
»Ja, das ist wahr: ich war ein kleines, dummes Mädchen, und es machte mir Vergnügen, zu sehen, wie er plötzlich verlegen wurde und Angst hatte, mich anzusehen, und wie er dann wieder mich ganz lange, lange ansah und bisweilen sogar erblaßte. Vielleicht habe ich ein bißchen mit ihm kokettiert, auf kindliche Weise, vor lauter Langerweile . . . Es war bei uns wirklich manchmal sehr . . . langweilig! Aber ich glaube, er war sehr gut und sehr unglücklich: er hatte gar keine Verwandten! Ich nahm sehr viel Anteil an ihm, und ich war sehr vergnügt mit ihm, gewiß! Aber wie teuer mußte ich diese Dummheit bezahlen!«
»Ach – nur rasch, erzählen Sie!« sagte Raiski.
»An meinem Namenstage fand bei uns großer Empfang statt, ich war damals schon in die Gesellschaft eingeführt. Ich hatte eine Beethovensche Sonate einstudiert, die er sehr liebte – dieselbe, die auch Sie so gern hören . . .«
»Daher die Vollendung, mit der Sie diese Sonate spielen