daß ich dich herbemüht habe,‹ brachte sie mit Mühe hervor —›ich sehnte mich so, dich zu sehen! Seit einer Woche liege ich im Bett: ich hatte solche Schmerzen in der Brust . . .‹
Sie seufzte. Er hörte nicht, was sie sagte, sondern blickte nur voll Entsetzen in ihr Gesicht, das ihm noch jüngst so heiter zugelächelt hatte. Was war aus ihr geworden? ›Was ist mit dir? . . .‹ wollte er fragen, doch blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, und in plötzlicher Aufwallung barg er sein Gesicht neben dem ihrigen in den Kissen und brach in lautes Schluchzen aus.
›Was denn? Was ist denn?‹ fragte sie und streichelte zärtlich seinen Kopf: sie machten sie so glücklich, diese Tränen. ›Es ist nichts von Bedeutung, sagte der Doktor, es wird vorübergehen . . .‹
Aber er hörte nicht auf zu schluchzen: er begriff, daß es nicht vorübergehen würde.
›Ich dachte, du würdest mich aufheitern. Ich hatte solche Langeweile und solche Angst, als ich hier so allein lag . . .‹ Sie fuhr zusammen und blickte um sich. ›Deine Bücher habe ich alle gelesen, sie liegen dort auf dem Stuhle,‹ fügte sie hinzu. ›Wenn du sie durchblätterst, wirst du am Rande meine Bemerkungen finden; ich habe mit dem Bleistift alle Stellen unterstrichen, die mich . . . an unsere Liebe . . . erinnerten . . . Ach, ich bin so matt, ich kann nicht sprechen . . .‹ Sie hielt in ihrer Rede ein und netzte mit der Zunge ihre heißen Lippen. ›Gib mir zu trinken . . . dort . . . auf dem Tische . . . ist Wasser!‹
Sie trank ein paar Tropfen und zeigte dann auf eine Stelle des Kissens – dahin möchte er seinen Kopf legen, gab sie ihm durch ein Zeichen zu verstehen. Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf, und er trocknete heimlich seine Tränen. ›Du wirst dich hier langweilen,‹ flüsterte sie leise. ›Verzeih, daß ich dich hergebeten habe . . . Wie wohl mir jetzt ist – wenn du wüßtest!‹ sprach sie selbstvergessen, halb wie im Traume, und fuhr mit der Hand durch sein Haar. Dann legte sie ihren Arm um seinen Hals, blickte ihm in die Augen und versuchte zu lächeln. Er erwiderte schweigend, mit Zärtlichkeit, ihre Liebkosungen und hielt gewaltsam die Tränen zurück, die sich ihm in die Augen drängten.
›Wirst du heut bei mir bleiben?‹ fragte sie und blickte ihm dabei in die Augen.
›Den ganzen Abend, die ganze Nacht! Ich verlasse dich nicht, bis . . .‹
Mit Gewalt drängten sich ihm die Tränen in die Augen.
›Nein, nein, warum? Ich will nicht, daß du dich grämst . . . Beruhige dich, leg’ dich schlafen – mir fehlt nichts, wirklich nichts . . .‹
Sie versuchte zu lächeln, vermochte es jedoch nicht.
›Ich will dir etwas sagen – aber du darfst nicht böse werden . . .‹
Er drückte ihre feuchte Hand.
›Ich habe nämlich eine List gebraucht . . .‹ flüsterte sie, ihre Wange an die seine legend. ›Seit vorgestern fühle ich mich weit besser, und ich schrieb dir, daß ich im Sterben liege . . . Aber ich wollte dich nur hierher locken . . . verzeih mir!‹
Sie lächelte, er aber ward starr vor Entsetzen: er sah und hörte, wie es mit dieser Besserung stand. Doch er versuchte zu lächeln, drückte krampfhaft ihre Hände und ließ den ängstlichen Blick bald über ihre Gestalt, bald durchs Zimmer schweifen.
Ganz plötzlich war er aus dem hellerleuchteten Saal, aus dem fröhlichen Kreise seiner Freunde, junger Künstler und schöner Frauen, in dieses schlichte Zimmer gekommen. Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett und vertiefte sich in die Bilder seiner Phantasie: in schneidendem Kontrast erschien ihm sein ungebundenes, lustiges Leben zu diesem Schmerz, der sich plötzlich in seine Seele gesenkt hatte. Dort der große, hell und heiter erleuchtete Raum, die fröhlichen Genossen, in schwellender Jugendkraft und Gesundheit, heitere Lieder singend, angeregt plaudernd, beim üppigen Mahle, schäumende Becher auf der Prunktafel und duftende Blumen. Und zwischen ihnen, den Freunden, die fröhlichen Gesichter junger Frauen, in Lebenslust und Schönheit erstrahlend: Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tänzerinnen, neben den Künstlern die goldene Jugend – Schönheit, Geist, Talent, Humor, kurz alles, was die Sonnenseite des Lebens bietet, in berauschender Harmonie beisammen! Und nun waren ihm plötzlich hier, in diesem ärmlichen, kleinen Zimmer, angesichts dieses früh vernichteten, vor seinen Augen verlöschenden Lebens die dunkelsten Schatten des Daseins entgegengetreten.
Dort hatte er die in jugendlicher Frische strahlende Stirn, die herrlichen Augen, das in üppigen Flechten über Nacken und Schultern herabwallende Haar und die volle Büste der Königin des Festes bewundert. Und hier sahen ihn die eingefallenen, kaum noch flackernden Augen der Sterbenden an, ihr Haar erschien trocken und farblos, und der Körper war zum Skelett abgemagert . . . Der furchtbare Gegensatz der beiden Bilder schnitt ihm tief ins Herz; ein unüberbrückbarer Abgrund schien zwischen ihnen zu liegen – und doch waren sie beide wahr und wirklich. In einer Galerie hätte man sie nicht nebeneinander hängen dürfen, das Leben aber stellte grausam das eine neben das andere – und er stand da und starrte darauf mit verstörtem, stierem Blicke.
Ein Schauer des Entsetzens, der tiefsten Seelenqual überlief ihn. Unwillkürlich gruppierte er die Gestalten, gab er jeder von ihnen, auch sich selbst, die Haltung, die die Komposition des Ganzen zu verlangen schien, fügte er Fehlendes hinzu, beseitigte er das Überflüssige. Und während die Phantasie so in seinem Innern erbarmungslos arbeitete, erschrak er zugleich über diesen seelischen Prozeß, faßte mit der Hand nach seinem Herzen, um den Schmerz zurückzudämmen, das erstarrte Blut zu erwärmen und die furchtbare Pein seiner Seele zu beschwichtigen, die sich bei jedem schmerzlichen Aufseufzen der Kranken in einem gellenden Aufschrei Luft zu machen suchte.
Diese Liebe auf dem Sterbebett sengte sein Herz wie glühendes Eisen; jede Liebkosung nahm er mit einem Schluchzen entgegen, wie eine Blume, die von einem Grabe gepflückt war.
Als sein Schmerz ein wenig zur Ruhe gekommen war und er nur noch die schweren Atemzüge Nataschas vernahm, rollte sich vor seinem Auge die Geschichte dieses jungen Menschenlebens auf, das da vor seinen Augen erlosch. Er sah sie als ganz junges Mädchen, mit offenem, leicht verschämtem Blick, unter der schwachen Aufsicht einer armen, kranken Mutter heranwachsend.
Er hatte sie in einem gefährlichen Augenblick kennengelernt, als ihrer jugendlichen Unwissenheit und Unschuld schlimme Fallstricke bereitet wurden. Unter der Maske der Teilnahme und alter Freundschaft hatte ein vermeintlicher Freund der Mutter eine Pension erwirkt und ihr auch den Arzt geschickt. Jeden Abend erschien der alte, bereits ergraute Wüstling, um unter dem Vorwande, die Mutter zu besuchen und sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, seine Verführungskünste bei der Tochter zu versuchen. Die Mutter erlag damals langsam derselben Krankheit, der jetzt, nur wenige Jahre später, auch die sie überlebende Tochter zum Opfer fallen sollte. Raiski hatte damals sogleich die Sachlage durchschaut und war entschlossen, die Tochter zu retten.
Er meinte es aufrichtig mit seinem Rettungswerk, öffnete der Mutter wie der Tochter die Augen über die wahren Absichten des »Wohltäters« und verliebte sich dabei selbst in Natascha. Er fand Gegenliebe bei ihr, sie wurden glücklich miteinander und empfingen den Segen der sterbenden Mutter für ihren Herzensbund.
Sie meinten es beide so gut, so ehrlich miteinander. Er achtete ihre Unschuld, sie schätzte sein treues, aufrichtiges Herz – beide sahen im ehelichen Bunde den natürlichen Abschluß ihrer Liebe, und beide waren zu schwach, um auszuharren . . .
Ein halbes Jahr brachte die Mutter auf dem Krankenlager zu, dann starb sie. Ihr Grab stand zwischen ihnen und dem Traualtar— die tiefe Trauer, die sich plötzlich auf Nataschas junges Leben gesenkt hatte, griff den zarten, von der ererbten Krankheit bedrohten Organismus schwer an, während zugleich, noch stärker als die Krankheit, die Liebe mit ihrer Ungeduld und ihrem Hunger nach Glück an ihm zehrte.
Die Ärzte setzten den heißen Wünschen der beiden Liebenden ihr Machtwort entgegen: sie müßten, hieß es, drei bis vier Monate warten, ehe sie vor den Altar träten. Aber die Liebe wartet nicht – sie riß sie mit sich fort.
Er hatte sie wohl vor dem alten Wüstling und vor der Not gerettet, nicht aber vor sich selbst. Sie liebte ihn nicht mit verzehrender, flammender Leidenschaft, sondern mit einer furchtlosen, unerschütterlichen Hingebung, ohne Tränen, ohne Qualen, ohne Opfer, weil sie nicht begriff, was ein Opfer